Der Henstedt-Ulzburger Lennart Grube berichtet aus Argentinien, wo er zurzeit ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert

El Bolson. Ein Sprichwort besagt, dass Reisende fern von allem Gewohnten erst wirklich ihre Heimst zu schätzen lernen. In diesem Satz steckt eine Menge Wahrheit. Auch mir erging es so in den ersten Wochen hier in Argentinien. Alles war neu und ungewohnt für mich, und ich habe die Bequemlichkeit meiner Heimat etwas vermisst. Doch nach und nach habe ich mich eingelebt, Menschen kennengelernt und meinen Platz hier gefunden. Inzwischen wohne ich seit etwas mehr als drei Monaten in El Bolson, Patagonien, und ich mache die Erfahrung, dass es sehr wichtig ist, ab und zu aus dem Trott der Bequemlichkeit (den wir Deutsche manchmal gehen) herauszukommen und den Blick für neue Perspektiven zu öffnen.

Am Anfang meines freiwilligen Jahres in einer Waldorf-Schule fiel es mir manchmal schwer, mich ganz auf dieses Land einzulassen, ohne es ständig mit Deutschland zu vergleichen. Doch es fiel mir auf, dass das Vergleichen ein ganz normaler Prozess ist und sich nicht abschalten lässt. Wichtig ist nur der Maßstab, den man anlegt, d.h. von welchem Standpunkt aus man die Dinge sieht; und da ist mir erst wirklich aufgefallen, auf welch hohem Ross ich saß, von dem ich erst einmal auf den Boden der Tatsachen absteigen musste. In diesem kurzen Bericht möchte ich die Leser an meiner neuen Sicht teilhaben lassen, darum vergleiche ich im Folgenden ganz bewusst Gemeinsamkeiten und Unterschiede Deutschlands und Argentiniens.

Bis vor Kurzem zählte Argentinien zu den sogenannten Schwellenländern, doch mittlerweile wird es zur Kategorie der hoch entwickelten Industrieländer gezählt. Wenn man durch die Straßen und Geschäfte einer normalen argentinischen Stadt geht, fällt einem kaum ein Unterschied zu deutschen Einkaufsstraßen auf. Außer, dass fast alle Produkte in Argentinien hergestellt sind. Importierte Ware ist häufig schwer zu bekommen und dann auch noch sehr teuer. Da der Kurs zwischen Euro und argentinischem Peso stark schwankt, wechsle ich immer nur kleine Mengen Geld. Hinzu kommt eine starke Inflation von etwa 25 Prozent. Alle sechs Monate müssen zum Beispiel die Gehälter der Lehrer erhöht werden, doch davon können sie mehr schlecht als recht leben. Ich habe schon bei sechs verschiedenen Waldorf-Familien gelebt, und interessanterweise sind es bisher diejenigen gewesen, denen es finanziell am schlechtesten ging, die mich einluden, bei sich zu wohnen.

Man sieht viele Autos, die älter als 50 Jahre sind, in den Straßen

Also kenne ich noch nicht das volle Spektrum einer „normalen“ argentinischen Familie. Was ich bisher allerdings festgestellt habe, ist, dass hier viel mehr nach dem Motto „Reduce – Reuse – Recycle" gelebt wird (Reduce bedeutet: Verringerung des Abfallvolumens: die Abfallvermeidung. Danach folgt Reuse: die möglichst direkte Weiterverwendung. Erst an dritter Stelle kommt die materielle Umformung durch Recycling). Das macht sich besonders auf der Straße bemerkbar, denn es fahren viele uralte Autos durch die Gegend, viele von denen sind weit älter als 50 Jahre. Das reduziert natürlich nicht gerade den Brennstoffverbrauch, aber ist ein Gegensatz zu dem Wegwerfverhalten vieler anderer Industrieländer.

Viele der Waldorf-Familien besitzen nicht einmal ein Auto, sondern sie bilden Fahrgemeinschaften. So ist ein Fünfsitzer manchmal mit dreizehn Leuten vollgestopft. Das Reisen mit dem Finger, wie es hier genannt wird, also per Anhalter ist ein ganz normales Fortbewegungsmittel. Daneben ist das Bus - und Taxisystem sehr gut ausgebildet und günstig. Allgemein leben die Argentinier (zumindest hier in der Gegend) sehr sparsam. Es wird nur das gekauft, was auch wirklich gebraucht wird. In fast keinem Mülleimer hier würde man etwas Essbares finden. Durch das maßvolle Leben gibt es hier viel weniger übergewichtige Menschen. Supermarktketten, wie wir sie kennen, gibt es nur ganz wenige. Die meisten Leute die ich kenne, ziehen es vor, regionale Produkte zu konsumieren und Einzelhändler zu unterstützen.

Ende Dezember ist in Argentinien Sommer, Schnee liegt nur in den Anden

Überhaupt kommt es hier viel auf den Einzelnen an, denn die Regierung unternimmt zum Beispiel nur sehr wenig für den Naturschutz oder für die Bildung. Die örtliche Müllabfuhr unterscheidet nicht zwischen den verschiedenen Müllsorten. Darum hat jeder einen kleinen Kompost für organische Abfälle, der dann später zur Aufzucht von Gemüse in einem kleinen Garten genutzt wird. Über das argentinische Bildungssystem habe ich bisher noch nicht viel Gutes gehört. Allgemein gibt es eine Grundschule von sechs Jahren und eine weiterführende Schule von weiteren sechs Jahren.

Auch Argentinien ist weitgehend christlich geprägt, und es nähert sich die Weihnachtszeit. Zwar ist es hier nicht weihnachtlich, so wie wir es kennen, denn Ende Dezember ist Sommer, und Schnee sieht man nur auf den Gipfeln der Anden. Doch trotzdem bereiten sich die Leute auf die Festlichkeiten vor. Supermärkte bieten entsprechende Produkte an, besonders Essen. Bisher habe ich von keinem gehört, dass er sich gedrängt fühlt, etwas zu schenken. Was mir soweit erzählt wurde, ist, dass es ein großes Festessen gibt und man sich eine Kleinigkeit von Herzen schenkt. Aber auch ich bin gespannt, wie ein heißes (statt weißes) Weihnachten ist.

Lennart Grube wird auch im kommenden Jahr für das Abendblatt von seinen Erfahrungen in Argentinien berichten.