Energie-Expertin Claudia Kemfert wirbt in Norderstedt für eine dezentrale Stromversorgung: “Davon können Kommunen profitieren“. Sie selbst praktiziert die Energiewende.

Norderstedt. Der prominente Gast kam mit der U-Bahn nach Norderstedt. Wenn Claudia Kemfert Auto fährt, nutzt sie ein Elektromobil. Die aus Talkshows bekannte Energieökonomin fliegt nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Die Professorin praktiziert die Energiewende, die sich politisch zwischen Atomausstieg und steigenden Energiepreisen verheddert. Für die Besucher ihres Vortrags in der Aula des Coppernicus-Gymnasiums hatte sie eine ebenso schlichte wie eindrucksvolle Botschaft mitgebracht: "Kommunen wie Norderstedt können enorm von der Energiewende profitieren."

Claudia Kemfert war zu Gast beim Solarzentrum Norderstedt, das zu den regionalen Kompetenzzentren in Sachen Neue Energien zählt. Nach eigenen Angaben hat die Organisation mit den Gründungen der Sonnenkraft Henstedt-Ulzburg eG und der Sonnenkraftwerk Bad Bramstedt eG die beiden größten Solargenossenschaften in der Metropolregion Hamburg ins Leben gerufen. Drei Millionen Euro haben die Genossenschaften bislang investiert.

Im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt nennt Claudia Kemfert Menschen, die sich in diesen Genossenschaften engagieren, Mutbürger und spricht von einer "Energiewende von unten". "Diese Menschen wollen Teil einer Veränderung sein", sagt die Wissenschaftlerin, die seit 2004 die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin leitet und als Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit an der privaten Universität, der Hertie School of Governance, tätig ist. 80.000 Menschen haben bereits Anteile von Bürgersolargenossenschaften, sagt sie und weist auf die ökonomischen Vorteile des Engagements hin: "Man bekommt eine Rendite und reduziert die Energiekosten."

"Das ist für mich gelebte Demokratie", sagt Claudia Kemfert

"Für mich ist das die gelebte Energiewende." Doch es geht Claudia Kemfert nicht nur um Ökonomie und Energie. Das Engagement der Bürger treibe die Politik an - nicht nur beim Atomausstieg. "Das ist für mich gelebte Demokratie", sagt Claudia Kemfert.

Die Vernetzung der Akteure gehört auch zu den Zielen, die sich Thomas Leidreiter gesetzt hat. Er ist Geschäftsführer des Solarzentrums Norderstedt und der 2012 gegründeten Genossenschaft BürgerEnergie Nord, die Photovoltaikanlagen bei Unternehmen betreibt und den Strom an sie verkauft. Leidreiter versucht auch, die Norderstedter Stadtwerke für eine Zusammenarbeit zu begeistern. "Wir müssen Bürger, Unternehmen und Organisationen zusammenführen", sagt Leidreiter, der auch auf die Bedeutung der Energiewende für den Klimaschutz hinweist. "Wir haben keine Zeit mehr", sagt er. "Wir warten nicht auf die Politik und die Energieversorger."

Er fordert eine dezentrale und regionale Stromversorgung mit der Beteiligung der Bürger mit zwei Zielen: Der Energieverbrauch muss abnehmen, die Versorgung muss nachhaltig erfolgen.

Der Unternehmer Jörn Schmidt aus Norderstedt gehört zu den Mutbürgern, die sich Claudia Kemfert wünscht. 65.000 Euro hat er der Chef des Gartenbaubetriebs Jenkel im Tangstedter Ortsteil Wilstedt in eine Solaranlage mit einer Fläche von 300 Quadratmetern investiert und kann damit seine Stromkosten um bis zu 25 Prozent reduzieren. "Die Investition trägt sich durch das, was wir einsparen", sagt Schmidt. Vereinfacht gesagt: Seinen Kredit tilgt er mit der Summe, die er jetzt nicht für Strom ausgeben muss. Sind die Schulden bezahlt, rechnet sich das Investment erst recht.

Auf dem Dach seines Privathauses in Norderstedt hat Schmidt schon vor zwei Jahren eine Solaranlage bauen lassen. "Die Anlage nutze ich hauptsächlich für den eigenen Verbrauch", sagt der Geschäftsmann. "Den Rest speise ich ins Netz ein." Dafür erhält Jenkel eine Vergütung von 15 bis 16 Cent pro Kilowattstunde.

Die Investition für eine Solaranlage auf einem Einfamilienhaus beziffert Leidreiter mit etwa 9000 bis 10.000 Euro. Damit könne der Energiebedarf des Haushalts gedeckt werden - wenn die Sonne scheint.

Dass die Energiewende auch im großen Rahmen gelingen kann, derzeit aber von den Energiekonzernen und manchen Politikern in Grund und Boden geredet wird, versucht Claudia Kemfert in ihrem neuen Buch "Kampf um Strom" zu belegen. "Wir haben eine Negativkampagne, um die Energiewende schlecht zu reden", sagt die Wissenschaftlerin, die dazu aufruft, sich von zentralen Versorgungsstrukturen mit großen Verteilernetzen zu verabschieden. Dabei müsse niemand Angst vor einem Blackout haben. Selbst nach der Abschaltung einiger Atomkraftwerke produziere Deutschland noch so viel Strom, dass es für den Export reiche.

Nach ihren Berechnungen sind die vier großen Stromkonzerne mit einem geradezu lächerlichen Anteil an den Investitionen für erneuerbare Energien beteiligt. Der Anteil beträgt gerade mal sieben Prozent, 40 Prozent haben bereits die Mutbürger übernommen.