In Segeberg lassen sich Patienten aus dem ganzen Land kostenlos behandeln. Dr. Denkers Appell an die Politik: „Schafft einen Rettungsschirm”.

Bad Segeberg. Es sind Menschen wie Klaus Beier (Name von der Redaktion geändert), die sich mittwochs zwischen 15 und 17 Uhr am Kirchplatz 2 in Bad Segeberg einfinden. Er hat sich morgens um 6 Uhr in seinen alten VW Passat gesetzt und ist die rund 730 Kilometer von Stuttgart nach Bad Segeberg gefahren. Kurz vor 15 Uhr trifft er ein, stellt sein Auto auf den Parkplatz vor der Marienkirche und begibt sich in die Praxis. Die Schmerzen sind unerträglich - das Magengeschwür macht ihm zu schaffen.

Der selbstständige Zimmermeister nimmt den weiten Weg nach Bad Segeberg auf sich, weil sich hier ein Arzt kostenlos um ihn kümmert: In der "Praxis ohne Grenzen" werden Patienten behandelt, die sich eine Krankheit nicht leisten können.

Beier fehlt das Geld für die Untersuchung, obwohl er eigentlich nicht so aussieht: Er hat keine Krankenversicherung. Das Geld für die private Kasse kann er nicht aufbringen, in das gesetzliche Solidarsystem darf er nicht zurück. Er hat zwei Möglichkeiten: Entweder er wird nicht krank, oder er lässt sich kostenlos behandeln. Das ist zurzeit nur in Bad Segeberg und in Stockelsdorf möglich. Nach einer Versichertenkarte fragt hier niemand, Praxisgebühren werden nicht verlangt.

Im Wartezimmer sitzt Klaus Beier nicht alleine. Fünf Frauen und Männer warten hier auf eine Behandlung. Keiner von ihnen sieht aus wie ein Sozialfall. Für Dr. Uwe Denker ist das keine Überraschung: Die meisten seiner Patienten kommen aus dem Mittelstand.

Als der Allgemeinmediziner und Kinderfacharzt im Ruhestand vor zweieinhalb Jahren seine "Praxis ohne Grenzen" am Kirchplatz 2 in Bad Segeberg eröffnete, wollte er eigentlich einer anderen Menschengruppe helfen: Gestrandete, Obdachlose, Alkoholiker, Langzeitarbeitslose. Aber inzwischen hat sich das Bild gewandelt. In seine Praxis kommen vor allem Menschen, die ehemals gut verdient haben und davon ausgegangen sind, ihre Arztrechnungen aus eigener Tasche zahlen zu können. Andere können ihre Beiträge für die private Krankenversicherung nicht mehr zahlen und werden von ihrer Kasse herabgestuft. Zur dritten Gruppe gehören Patienten, die finanziell nicht in der Lage sind, die vierteljährlichen Praxis- oder Kassengebühren zu zahlen.

Viele der Patienten haben früher einmal sehr gut verdient

Vor allem Kranke aus den ersten beiden Gruppen nehmen lange Wege in Kauf, um sich in Bad Segeberg behandeln zu lassen. Sie kommen aus ganz Deutschland hierher. Teilweise sogar aus dem Ausland, weil sie sonst keine Chance sehen, einen Arzt zu konsultieren. Es sind Grafiker, Ingenieure oder Journalisten. "Viele haben einmal gut verdient", sagt Uwe Denker. "Als das Geschäft zurückgegangen ist, haben sie die Krankenversicherung sausen lassen und keine Beiträge mehr gezahlt; wer dann krank wird, sieht alt aus." Man könnte es auch umgekehrt sehen: Wer alt wird, sieht krank aus.

Der 74 Jahre alte Arzt aus Bad Segeberg hat seine "Praxis ohne Grenzen" 2010 eröffnet. Als er seine Idee vorstellte, stieß er bei Kollegen zwar auf Interesse, aber die Bereitschaft zur Mitarbeit hielt sich in Grenzen. Inzwischen hat sich das geändert: Uwe Denkers Praxismodell sorgt für mediale Aufmerksamkeit. TV-Sender bringen Beiträge zur besten Sendezeit, Zeitungen und Zeitschriften berichten. Der Bekanntheitsgrad der Praxis ist gestiegen: Immer wenn irgendwo berichtet wird, klingelt die Kasse. Als der Segeberger Arzt vor zwei Wochen Gast in der RTL-Sendung "Stern TV" war, wurden schon kurz nach der Ausstrahlung die ersten Summen überwiesen. Kirchengemeinden stellen Kollekten zur Verfügung, bei Beerdigungen wird für diese besondere Praxis gesammelt.

Mit diesem Geld werden die laufenden Kosten gedeckt, aber keine Honorare gezahlt: Alle 66 Mitarbeiter der "Praxis ohne Grenzen" arbeiten unentgeltlich. Die Spenden haben die Anschaffung eines EKG und eines Sonografen ermöglicht. Praxismiete, Haftpflichtversicherung, Medikamentenkauf und Reinigungskosten werden davon bezahlt. Krankenhauskosten hingegen nicht. "Das werden wir nie können." Trotzdem werden Patienten natürlich in Krankenhäuser überwiesen, wenn es nötig ist. Krankenhäuser haben eine Behandlungspflicht, die Rechnung bekommt der Patient - auch wenn er sie nie bezahlen wird.

300 Patienten wurden seit 2010 in der Segeberger Praxis behandelt

Was 2010 als eine Art Nachbarschaftshilfe gestartet wurde, hat also längst eine Dimension angenommen, von der Denker selbst überrascht ist. 300 Patienten wurden bisher in der Praxis behandelt, außerdem führt Uwe Denker, der praktisch immer erreichbar ist, täglich Beratungsgespräche am Telefon. "Die Dankbarkeit ist so groß, dass ich nicht aufhören kann", sagt der aktive Christ, der in Pronstorf einen Kirchenchor "managt". "Ein zeitliches Limit habe ich mir nicht gesetzt." Mit 68 Jahren ist seine kassenärztliche Zulassung ausgelaufen, das Engagement für die "Praxis ohne Grenzen" hat hingegen kein Verfallsdatum. Die eigene Praxis führt seine Tochter weiter, seine Ehefrau unterstützt ihn bei der neuen Aufgabe.

Sieben Basisärzte und sieben Arzthelferinnen oder Krankenschwestern wechseln sich in der wöchentlichen Sprechstunde ab. Hinzu kommt ein Pool von Fachärzten und Mitarbeitern aus medizinischen Assistenzberufen, die unterstützend tätig sind. Die Ärztekammer hat dieses Praxismodell abgesegnet. Initiator Denker ist beratend tätig, wenn anderswo eine "Praxis ohne Grenzen" eröffnet werden soll. Bisher ist das in Stockelsdorf der Fall gewesen. Fünf weitere Praxen befinden sich in Schleswig-Holstein in Planung.

In höchsten Regierungskreisen ist Denkers Idee angekommen. Kürzlich besuchte Gesundheitsminister Bahr die Segeberger Einrichtung, denn Uwe Denker und seine Kollegen haben auch ein politisches Sendungsbewusstsein: "Ein Strukturwandel im Gesundheitswesen ist überfällig", sagt der Segeberger Arzt, der für seine Initiative mit zahlreichen Preisen bedacht wurde. Sein Appell an Politik, Krankenkassen, Pharmalobby und Bürger: "Schafft einen Rettungsschirm und eine Härtefallregelung für in Not geratene Kranke." So sollte seiner Ansicht nach auch für Nichtversicherte über 55 Jahren die Möglichkeit bestehen, sich wieder in einer gesetzlichen Krankenkasse versichern zu lassen.

Spenden können auf dieses Konto eingezahlt werden: Volksbank Raiffeisenbank eG, Bankleitzahl 212 900 16, Kontonummer 568 00 000 (Kennwort: "Praxis ohne Grenzen"). Praxistelefon mittwochs von 15 bis 17 Uhr: 04551/95 50 27. Weitere Informationen im Internet unter www.praxisohnegrenzen.de