Wenn Eltern nicht mehr können oder Lehrer Alarm schlagen, dann setzt das Jugendamt auf die die Pädagogen des SOS-Kinderdorfs in Harksheide.

Norderstedt. Manchmal melden sich die Eltern beim Norderstedter Jugendamt, weil sie eingesehen haben, dass sie sich um ihr Kind nicht mehr ausreichend kümmern können. Öfter aber sind es die Lehrer der Norderstedter Schulen, die verhaltensauffällige Kinder aus ihren Klassen melden, die äußerlich und sozial verwahrlost sind. Die Probleme in den Familien sind vielfältig. Also müssen es die Lösungen auch sein. Seit zehn Jahren arbeiten Jugendamt und das SOS Kinderdorf in Harksheide in dem Projekt Tagesgruppe erfolgreich zusammen. Derzeit neun Kinder zwischen sechs und zehn Jahren werden nach der Schule und bis zum frühen Abend im Kinderdorf am Henstedter Weg betreut. Das gibt den Eltern die Zeit, ihr Leben zu ordnen. Und die Kinder bewahrt es vor dem gänzlichen Abrutschen.

Es ist die alleinerziehende Mutter, die von ihrem Freund geschlagen wird. Oder deren Psyche nicht mehr mitmacht und die dringend in Therapie muss. Es sind Familien am existenziellen Minimum, mit arbeitslosen Vätern und verzweifelten Müttern. Familien, in denen sich die Eltern ständig streiten und prügeln. Für die Kinder, die so aufwachsen, ist Gewalt und Demütigung alltäglich. Strukturen und regelmäßige Rituale, Werte oder Pflichten werden ihnen nicht vorgelebt. Das geschmierte Pausenbrot, die frische Jeans, das liebe Wort oder die Gutenacht-Geschichte sind ihnen fremd. "In unserer Gruppe ist all das auf einen Schlag weg. Wir bieten einen völlig angstfreien Raum", sagt Anja Lebenhagen (36). Die Pädagogin leitet die Tagesgruppe im SOS-Kinderdorf seit ihrer Gründung 1999, zusammen mit den Kollegen Martin Stern (32) und Christine Stephan-Izgi. Angstfreiheit - das bedeutet, die Kinder müssen keine Beleidigungen fürchten, sie erleben Respekt, Anerkennung und das Interesse an ihren Wünschen und Bedürfnissen. Umgekehrt wird genau das auch von ihnen in der Gruppe gefordert. Anja Lebenhagen: "Ein Nein bedeutet bei uns Nein."

Einen geregelten Tagesablauf erleben die Kinder im SOS Kinderdorf meistens zum ersten Mal in ihrem Leben. Nach der Schule werden die Kinder abgeholt. Es gibt ein Mittagessen, danach hat jedes Kind hauswirtschaftliche Aufgaben, etwa Tischdienst oder Putzen. Im Anschluss werden gemeinsam die Hausaufgaben erledigt. Schulisch geht es für die Kinder meistens nur um Minimalziele. "Die lange Geschichte ihrer Vernachlässigung ist für die Kinder nicht mehr aufzuholen. Sie werden nie das Niveau ihrer Mitschüler erreichen", sagt Anja Lebenhagen. In der Freizeit können die Kinder Fußball spielen, Roller fahren, Kickern und für die Mädchen gibt es sogar eigens einen "Barbie"-Raum. "Wenn die Familien kein Geld haben, sind solche Spielzeuge unerreichbar", sagt Lebenhagen. Natürlich können sich die Kinder auch zurückziehen, die Ruhe genießen und sich darauf verlassen, dass die Tür auch zu bleibt. Verlässlichkeit ist der vielleicht wichtigste Wert, den die Tagesgruppe den Kindern bietet. Er schafft Vertrauen zu den drei Betreuern. Manchmal brechen dann die schlimmen Wunden auf der Seele auf. Kinder erzählen von schweren körperlichen Misshandlungen oder sexuellem Missbrauch. "Das haut einen um. Es ist dann gut, auch Tränen zu zeigen, nicht sachlich sondern persönlich zu reagieren", sagt Anja Lebenhagen. Natürlich werden diese "Kinderbeichten" den Behörden pflichtgemäß gemeldet. 70 Euro kostet die Betreuung das Jugendamt pro Kind und Tag. Halbjährlich besprechen das Jugendamt, die Eltern und die Pädagogen der Tagesgruppe, ob das Kind Fortschritte macht. Länger als zwei oder drei Jahre bleiben die Kinder nicht in der Gruppe. "Unser Erfolgserlebnis ist die Rückmeldung der Lehrer, die eine erhebliche Veränderung bei den Kindern verzeichnen. Oder die Freude der Eltern, die manchmal ihr Kind nicht wiedererkennen", sagt Anja Lebenhagen.

Ebenso wichtig wie heikel ist die Zusammenarbeit zwischen den Pädagogen und den Eltern der Kinder. Es ist ein schlimmer Moment, wenn sich Eltern eingestehen müssen, ihre Kinder nicht ordentlich versorgen zu können. "Wir müssen ihnen klar machen, dass die Gruppe kein Ersatz für die Familie ist, sondern eine Bereicherung - für die Kinder und für die Eltern", sagt Anja Lebenhagen. Oft müssen Grundlagen vermittelt werden. Das es wichtig ist, dass die Kinder duschen und saubere Kleidung haben, weil sie sonst in der Schule gehänselt werden. Viele Kinder stammen aus Migrantenfamilien, Sprachbarrieren sind hinderlich. "Wenn in einer afrikanischen Familie nur französisch geredet wird, können wir uns schlecht über Erziehungsgrundsätze unterhalten", sagt Lebenhagen. Dass die Eltern freiwillig in die Betreuung einwilligen ist die Voraussetzung für den Weg in die Tagesgruppe. "Wenn sich Eltern oder die Kinder ständig verweigern, wenn die Anwesenheitspflicht nicht eingehalten wird, dann brechen wir auch mal ab."

Mit spätestens zwölf Jahren entwachsen die Kinder der Gruppe, im günstigen Fall fängt sie dann der Freundeskreis oder der Sportverein auf. Anja Lebenhagen: "Dann gibt es hier tränenreiche Abschiedsszenen." Manche Kinder wollen lieber in der Gruppe bleiben - und gar nicht mehr nach Hause. In solchen Fällen greift die sozial-pädagogische Familienhilfe ein, die regelmäßig in den Familien nach dem Rechten schaut.

Anja Lebenhagen deutet mit Zeigefinger und Daumen einen Millimeterspalt an: "Wenn die Kinder bei uns nur soviel für ihr Leben mitnehmen, dann haben wir unsere Aufgabe erfüllt."

Immer wieder in den letzten zehn Jahren haben ehemalige Tagesgruppenkinder den Beweis erbracht, dass dem so ist. Wenn sie als Volljährige vorbeikommen, und den Betreuern erzählen, dass sie jetzt eine Ausbildung angefangen haben oder mit einem Partner in ein hoffentlich besseres Familienleben starten.