Der christliche Glaube stimmt nicht!“ sagte der Mann zu mir, und er blickte mich dabei ernst an. “Ich arbeite in einem Krankenhaus, und ich erlebe nie, dass ein Gott da ist, der hilft. Es geschehen keine Wunderheilungen wie in der Bibel. Der christliche Glaube stimmt einfach nicht!“

Ich war betroffen, konnte und wollte nicht schnell antworten. Ich wollte schmecken, was er sagte. Ich erinnerte mich an die vielen Trauernden, die ich begleitet habe. Ja, er hatte Recht: Es kam kein Gott, der ihnen die harte Arbeit des Trauerns abgenommen hätte. Es kam kein Jesus, der ihnen die Hand auflegte, und dann war alles wieder gut. Nein, diese Arbeit mussten sie selber tun. Sie mussten selbst die Frage stellen: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"

Wie oft haben wir diese Frage in Trauergesprächen zusammen gestellt? Wie oft war die Frage im Schweigen versteckt? Wie oft war sie durch Wut überlagert?

Mit diesen Gedanken im Hintergrund las ich eine der merkwürdigsten Geschichten in der Bibel. Sie steht im Markus-Evangelium. Menschen, wir wissen nicht genau wer, bringen einen taubstummen Mann zu Jesus und bitten ihn, dass er ihm die Hand auflege. Hatten sie auch die Vorstellung, dass Gott durch ihn im Nu ein Wunder vollbringen solle - ganz schnell durch Handauflegung? Hatte der taubstumme Mann Gott auch nur noch als einen Gott erlebt, der ihn verlassen hatte?

Die Geschichte wird mit einer Überraschung weiter erzählt. Jesus legt dem Mann nicht die Hände auf, sondern nimmt ihn beiseite, steckt ihm die Finger in die Ohren und berührt seine Zunge mit Speichel. Dann blickt er zum Himmel auf, seufzt und sagt: "Öffne dich!"

Warum wird dieser Kontakt so genau beschrieben? Offenbar will uns das Markus-Evangelium sagen: Schaut, wie viel Nähe nötig ist, damit ein Mensch auf einen heilsamen Weg kommen kann. Schaut, wie viel Ihr von euch selbst einbringen müsst, wenn Ihr heilsam mit Menschen umgehen wollt. Vielleicht beschreibt die Geschichte ja einen Prozess, der sehr lange dauert - viel länger als die kurze beschriebene Handlung.

So erlebe ich es in der Seelsorge. Es dauert lange, bis Menschen aus einem persönlichen Kontakt heraus sagen können: "Ja, diese Traurigkeit gehört wirklich zu mir dazu." oder: "Ja, ich habe wirklich viel Angst."

Wir brauchen viele, viele Fragen nach dem abwesenden Gott, bis wir die Antwort eines Tages vielleicht nicht mehr suchen, sondern spüren. Rainer Maria Rilke schrieb in einem Brief: "Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein." Der christliche Glaube stimmt, weil er diese Art von Fragen und Antworten zulässt.