Anklage gegen Frührentner. 42-Jähriger tötete zwei Italiener aus Ärger darüber, dass Italien öfter Weltmeister war als Deutschland

Hannover. Manchmal schauen sie weg, dann wieder auf die Stirnwand im Schwurgerichtssaal mit dem überdimensionalen Polizeifoto. Zu sehen sind große Blutlachen vor der Theke in der kleinen Kneipe Columbus in Hannover. Es ist das Blut ihres Vaters, der hier zusammen mit seinem Freund am 5. Juli 2010 sterben musste, weil Italien schon viermal Fußball-Weltmeister geworden ist und Deutschland nur dreimal. Im Tabletten- und Alkoholrausch hat der 42 Jahre alte Frührentner Holger B. die beiden Italiener aus Ärger darüber erschossen, dass er unrecht hatte, Italien besser dastand.

Die eben erwachsenen Kinder von Giuseppe L., einem der Toten, sehen ihn im Landgericht Hannover zum ersten Mal, diesen Mann, der ihre Familie zerstört hat. Blauer Trainingsanzug, Baseballkappe tief in die Stirn gezogen, unscheinbar, grau. Sie seien gekommen, sagt ihr Anwalt Bastian Quilitz, weil sie ihn einmal sehen wollten. Sie sitzen eng beieinander, während der Tatort anhand von Fotos besichtigt wird.

Noch am Morgen, kaum dass die beiden Opfer abtransportiert waren, ist die Kneipe mit einer 360-Grad-Kamera erfasst worden, die Beweisaufnahme im Doppelmord-Prozess wird eröffnet mit einem virtuellen Gang durch das Lokal. Viel Blut, die Schilder der Spurensicherung, Barhocker, die im Weg stehen, sind zu sehen.

Der Verteidiger von Holger B. verliest im Gericht eine Erklärung seines Mandanten. Der kann sich danach nur schemenhaft an den Morgen erinnern, als er laut Anklage nach einem Streit mit dem 47 Jahre alten Pizzabäcker und dem 49-jährigen Koch im Columbus das Lokal verließ, mit dem Taxi nach Hause fuhr, eine Pistole Makarov Kaliber neun Millimeter holte, schnurstracks zurückkehrte, eintrat und sofort den einen Italiener mit einem Kopfschuss aus nächster Nähe erschoss, dann dem zweiten Mann in den Hinterkopf und den Rücken schoss. Das erste Opfer war sofort tot, das zweite starb am Abend in der Universitätsklinik.

Was da um 7.20 Uhr passierte, hat wohl auch zu tun mit dem Konsum von viel Alkohol und Psychopharmaka vor der Tat. Ein psychiatrisches Gutachten des Gerichts kommt zu dem Schluss, der Mann sei möglicherweise zum Zeitpunkt der Tat vermindert schuldfähig gewesen. Aber vor allem hat er sich laut Anklage "zum Herrn über Leben und Tod aufgeschwungen" aus Frust über die eigene desolate soziale Lage: "Um kurzzeitig das eigene Ohnmachtsgefühl auszuschalten."

Neben den beiden Kindern des einen Opfers sitzen noch je ein Bruder von Giuseppe L. und Franco S., dem anderen Opfer, vorn im Gerichtssaal als Nebenkläger. Der eine Bruder ist aus Italien gekommen, trägt Kopfhörer, und eine Dolmetscherin übersetzt für ihn auch, was der Anwalt des Angeklagten in dessen Namen verliest: "Ich bin erschüttert und schäme mich, es ist für mich unfassbar und nicht zu erklären. Ich habe den Familien kaum vorstellbares Leid zugefügt." Die Angehörigen der Opfer lassen sich nicht anmerken, was sie von diesem Geständnis halten. Und auch hinten auf den Zuschauerbänken sagt niemand etwas. Hier sitzen weitere Verwandte und Freunde der Toten.

"Glatzen-Holger" haben sie den Angeklagten im Rotlichtviertel von Hannover genannt, an dessen Rand das Columbus liegt. Hier hat er sich am frühen Morgen gegen sechs Uhr ungefragt in ein Gespräch über die laufende Fußball-eltmeisterschaft eingemischt, Streit angezettelt. Als Zeugin schildert die Wirtin, wie es ihr gelang, die Streithähne zu trennen. Und wie Holger B. dann unerwartet zurückkam, die Pistole zog, sofort schoss und sagte: "Hier haste deine vier Sterne." Das Opfer trug ein italienisches Fan-Trikot mit vier Sternen für vier italienische Weltmeisterschaften. Danach wandte sich Holger B. sofort dem zweiten Mann zu, der vergebens um sein Leben flehte: Holger B. drückte gleich zweimal ab.

Sofort danach flüchtete er, flog am Abend von Hannover nach Mallorca - auf der Ferieninsel lebt sein Stiefvater. Der überredete ihn, sich zu stellen.

Die Anklage geht von Mord aus niederen Motiven aus, aber auch die Anklage verschweigt nicht die Notwendigkeit, der Frage nachzugehen, ob er überhaupt schuldfähig ist. Die Strafkammer hat gleich zwei psychiatrische Gutachter bestellt, die im Schwurgerichtssaal versuchen, sich ein Bild von dem Angeklagten zu machen. Der aber schweigt.

In der von seinem Verteidiger verlesenen Erklärung heißt es, er könne sich an Details kaum erinnern "nur an das Geräusch von drei Schüssen". Und im nüchternen Zustand wäre es zu dem Streit überhaupt nicht gekommen. "Ich weiß natürlich, dass Italien viermal Weltmeister war und Deutschland nur dreimal."

Der Prozess wird fortgesetzt..