Die Medizinerin ist auf freiem Fuß. Sie arbeitet derzeit als Gesundheitsberaterin. Seit heute läuft der Prozess - nicht zum ersten Mal.

Hannover. Niemals zuvor ist einem Arzt in Deutschland ein auch nur annähernd vergleichbarer Vorwurf gemacht worden. Wegen des Verdachts, 13 Patienten mit Morphium und Valium getötet zu haben, muss sich die Medizinerin Mechthild B. (59) seit heute früh erneut vor dem Schwurgericht am Landgericht Hannover verantworten. So unglaublich wie der Tatvorwurf des 13-fachen Totschlags ist auch der Ablauf des Geschehens. Die angeklagten Taten liegen inzwischen weit mehr als sechs Jahre zurück, ein erster Prozess platzte vor Jahresfrist, weil ein Richter schwer erkrankte. Die Angeklagte ist auf freiem Fuß.

Unter Tränen wies die Angeklagte heute im Landgericht Hannover die Vorwürfe zurück, 13 Patienten mit zu hohen Schmerzmittel-Dosen umgebracht zu haben. „Ich werde zu Unrecht beschuldigt und widerspreche entschieden allen gegen mich vorgetragenen Anschuldigungen“, sagte die Internistin nach der Verlesung der Anklage. Dabei handelte es sich um die erste Aussage, die Mechthild B. überhauptv traf - bisher sprachen nur ihre Anwälte.

An der Paracelsus-Klinik in Hannover-Langenhagen war B. seit 20 Jahren Belegärztin auf der Krebsstation, immer ansprechbar für die Patienten und ihre Angehörigen, eigentlich immer im Dienst. Auf Familie, so die eigene Einlassung der bekennenden Christin, hatte sie wegen der Arbeit verzichtet. Dann im Sommer 2003 stoßen Prüfer der AOK, die einen ganz anderen Fall untersuchen, durch Zufall auf unglaublich hohe Morphium- und Valiumverordnungen durch die Medizinerin. Die Staatsanwaltschaft lässt Leichen früherer Patienten exhumieren, der renommierte Schmerzmediziner Prof. Michael Zenz aus Bochum gutachtet vernichtend: In praktisch allen Fällen, so sein Fazit, sind die Patienten durch völlig unangemessene Dosierungen beider Mittel zu Tode gekommen.

Trotz der Schwere der Vorwürfe agiert die Justiz in Hannover schleppend: Zwischen Bekanntwerden des Verdachts und Anklageerhebung vergehen zwei Jahre, ein weiteres Jahr dauert es, bis die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen wird, und noch einmal anderthalb Jahre, bis im Februar 2008 der Prozess beginnt. Weil die Angeklagte nicht in Haft ist, haben andere Verfahren Vorrang. Als Ärztin darf Mechthild B. nicht arbeiten, so versucht sie derweil, sich als Gesundheitsberaterin über Wasser zu halten.

Der erste Prozess scheitert im August 2008 nach sechs Monaten an der schweren Erkrankung eines Richters. Zu diesem Zeitpunkt war das Verfahren bereits zur Gutachterschlacht ausgeartet, bei der sich mit Prof. Zenz und dem Frankfurter Prof. Rafael Dudsiak zwei ausgewiesene Fachleute ständig widersprachen. Zudem war das Verfahren schwer belastet: Die Ex-Frau eines der Berufsrichter hatte in einer eidesstattlichen Versicherung bekundet, ihr ehemaliger Mann habe sich vor dem Prozess in einem Telefongespräch von der Schuld der Angeklagten überzeugt gezeigt und gesagt, dies sei "nur die Spitze des Eisbergs". Das Landgericht Hannover aber schmetterte alle Befangenheitsanträge ab, ehe der Prozess aus anderen Gründen platzte.

Der Satz mit der Spitze des Eisbergs bezog sich ganz offenkundig darauf, dass die Staatsanwaltschaft sich ausschließlich mit Todesfällen auf der Krebsstation seit 2000 bis Mitte 2003 auseinandergesetzt hat. Kommt es zum Schuldspruch, dann wird die Frage im Raum bleiben, wie viele Patienten binnen 20 Jahren Arbeit die Ärztin Mechthild B. tatsächlich auf dem Gewissen hat. Das System der Belegärzte auf der Station, die praktisch unbeaufsichtigt schalten, walten und therapieren konnten, hat die private Klinik umgehend abgeschafft.

Dem Schwurgericht stellt sich zwangsläufig auch die bislang unbeantwortete Frage nach dem Motiv. Die Staatsanwaltschaft hat dazu im ersten Prozess weitgehend geschwiegen.

Der Verteidiger Matthias Waldraff wiederum wird ausloten wollen, ob das Gericht bereit ist, die ohnehin umstrittenen Grenzen der Sterbehilfe weit zu ziehen. Dass die Staatsanwaltschaft nur zwei Monate vor Prozessbeginn die Anklage auf jetzt 13 Fälle ausgeweitet hat, ist für Waldraff "ein böses Foul der Anklage". Allein die Verfahrensdauer sei bereits unmenschlich für seine Mandantin.

Zum Beginn des ersten Prozesses haben Patienten der Ärztin für diese demonstriert. Offen ist, ob dies sich heute wiederholen wird. Auffällig ist, dass nur eine einzige Nebenklägerin auftritt. Alle anderen Angehörigen der Toten haben darauf verzichtet. Und die Schwester einer schwer krebskranken Frau, die von der Ärztin B. bis zu ihrem Tod behandelt worden ist, schrieb dazu dem Abendblatt: "Frau Dr. B. hat meiner Schwester ein menschenwürdiges, schmerzfreies Leben bis zum Tod ermöglicht, dafür möchte ich ihr danken."