In Kiel verdichten sich die Spekulationen, dass das Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt wird

Kiel. In Schleswig-Holstein könnte es vorgezogene Neuwahlen geben. Nach Informationen aus Justizkreisen erwägt das Landesverfassungsgericht, das Landtagswahlrecht für verfassungswidrig zu erklären und eine Neuwahl bis Ende 2012 anzuordnen. "Ich halte das für nicht ausgeschlossen", sagte FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki dem Abendblatt. Verkündet werden die Urteile am kommenden Montag.

Verfassungsjuristen gehen davon aus, dass die Schleswiger Richter im Fall einer Neuwahl-Anordnung die Mehrheitsverhältnisse im Landtag wohl nicht korrigieren. Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) könnte also mit seiner schwarz-gelben Ein-Stimmen-Mehrheit weiterregieren. In der CDU gilt es allerdings als "nahezu ausgeschlossen", dass der amtsmüde Regierungschef im Fall einer Neuwahl noch einmal als Spitzenkandidat antritt. Er würde demnach den Regierungsstab vorher übergeben.

Kubicki glaubt das auch, ist aber nicht völlig sicher, dass Carstensen die Segel streicht. Kronprinz ist CDU-Fraktionschef Christian von Boetticher. Zum Zuge kommen könnte auch Wirtschaftsminister Jost de Jager, falls das Verfassungsgericht wirklich ernst macht und den regulären Wahltermin im Herbst 2014 um zwei Jahre vorzieht.

Im Landeshaus gilt es inzwischen als ausgemacht, dass die Politiker "einen Einlauf" vom Verfassungsgericht aus Schleswig bekommen. Gerichtspräsident Bernhard Flor hatte schon in der mündlichen Verhandlung Ende Juni durchblicken lassen, dass das Wahlrecht verfassungswidrig sein könnte. Grund: Die in der Landesverfassung vorgegebene Zielgröße für den Landtag (69 Abgeordnete) ist kaum sicher zu erreichen, weil es 40 Direktwahlkreise und damit eine hohe Wahrscheinlichkeit von Überhangmandaten gibt.

Als bester Beleg dürfte für das Gericht die umstrittene Wahl im Herbst 2009 gelten, die 95 Politiker in den Landtag brachte. Die CDU hatte im September bei einem Stimmenanteil von nur 31,5 Prozent 34 Direktwahlkreise und damit elf Überhangmandate geholt. Von ihnen wurden nach der ebenfalls umstrittenen Auslegung des Wahlrechts nur acht ausgeglichen. Folge: CDU und FDP haben eine Mehrheit im Landtag, obwohl SPD, Grüne, SSW und Linke zusammen mehr Zweitstimmen bekamen.

Die Opposition hofft deshalb nach wie vor, dass die Schleswiger Richter einen Vollausgleich der CDU-Überhangmandate anordnen und so dem Linksblock zu einer Ein-Stimmen-Mehrheit verhelfen. Bei einem Vollausgleich würde der Landtag allerdings auf 101 Abgeordnete wachsen.

Klar ist, dass das Gericht im Nachhinein den Mega-Landtag nicht verkleinern kann. Alternative wäre eine Neuwahl, die allerdings einen großen Vorlauf braucht. Zunächst müsste der Landtag ein verfassungsgemäßes Wahlgesetz beschließen, dabei etwa die Zahl der Direktwahlkreise auf unter 35 senken. In der Folge müssten alle Parteien in den neuen Wahlkreisen Kandidaten wählen, dann auf Parteitagen Landeslisten aufstellen. Im Landeshaus wurde schon gerechnet. Selbst wenn die Politiker die nötigen Vorarbeiten im Rekordtempo erledigen, könnte eine Neuwahl im Frühjahr 2011 stattfinden, etwa am 27. März, an dem in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gewählt wird.

Das Gericht in Schleswig scheint es nicht so eilig zu haben. Die diskutierte Frist, eine Neuwahl spätestens im Dezember 2012, gilt im Landeshaus als Indiz dafür, dass die Neuwahlverfechter im siebenköpfigen Verfassungssenat die Skeptiker einbinden möchten. Ob das gelingt, wird sich zeigen.