Nur vier Prozent der Spender und Empfänger lernen sich nach einer Stammzell-Transplantation kennen. Doch wenn es zum Kontakt kommt, entsteht meist eine Freundschaft.

Quickborn. Er hat den Tag nicht im Kalender markiert, nicht im Handy gespeichert. Er weiß auch so, dass es ein besonderer Tag ist. Daran muss ihn nichts erinnern. Niemand. Noch nicht einmal er selbst. Denn die Erinnerung ist immer da. Die Erinnerung an jenen Tag, als ihm ein neues Leben geschenkt wurde. Seitdem feiert Ulrich Tiemann (55) aus Quickborn seinen Geburtstag nicht mehr am 8. September, wie er es mehr als 50 Jahre lang gemacht hat. Sondern am 21. September. Es ist der Tag, an dem er vor vier Jahren eine lebensrettende Stammzellspende bekommen hat. Es ist der Tag, an dem Klaus Bauerfeind (46) aus Bayern bei ihm anruft.

Der hat sich den Tag im Kalender markiert. Damit er ihn nicht vergisst. Damit er daran denkt, sich bei Ulrich Tiemann zu melden. Weil Klaus Bauerfeind weiß, wie viel dieser Tag "dem Ulrich" bedeutet. Der Tag, an dem seine gesunden Stammzellen dem leukämiekranken Herrn Tiemann transplantiert wurden. Der Tag, an dem sich die Lebenswege der beiden kreuzten und für immer miteinander verwoben wurden.

Wenn man Klaus Bauerfeind fragt, ob er Ulrich Tiemann das Leben gerettet hat, wehrt er ab. Nein, er sieht sich nicht als Lebensretter. Weil das jemand sei, der unter Einsatz seines eigenen Lebens einen anderen rettet. Und das habe er nicht getan. Er habe "nur" seine Stammzellen gespendet. Nichts Besonderes getan, findet er.

Wenn man Ulrich Tiemann fragt, ob ihm Klaus Bauerfeind das Leben gerettet hat, winkt er ab. Weil ihn dann die Emotionen überwältigen und er nicht sprechen kann. Weil es keine Worte gibt, um das Unbeschreibliche zu beschreiben. Den Krebs, die Angst, die Verzweiflung. Und die Dankbarkeit. Die Dankbarkeit, dass ihm Klaus Bauerfeind geholfen hat, als ihm sonst niemand mehr helfen konnte. Dass er ihm Hoffnung gegeben hat, als es keine Hoffnung mehr gab.

Vier Jahre ist es jetzt her, dass Klaus Bauerfeind mit seiner Stammzellspende einem anderen Menschen geholfen hat, zu überleben. Zu leben. Damals wusste er noch nicht, dass es sich bei dem Empfänger um Ulrich Tiemann handelt. Ein Familienvater aus Quickborn. Ein Krankenpfleger, der sein Leben lang anderen geholfen hat - bis er selbst Hilfe brauchte. Damals wusste er noch nicht, dass sie die Anonymität bei einer Stammzellspende eines Tages durchbrechen und Freunde werden würden. Und noch mehr. "Freunde ist das falsche Wort", sagt Ulrich Tiemann. Weil sie mehr verbindet als ein gemeinsames Hobby oder Sympathie. Weil sie die Vergangenheit verbindet und eine Gegenwart, die Ulrich Tiemann ohne Klaus Bauerfeind nicht gehabt hätte.

Seit zwei Jahren sind sie Freunde. Vertraute. Verwandte - Blutsverwandte. Nach der Transplantation mussten sie zwei Jahre warten, bis die aus datenschutzrechtlichen Gründen vorgeschriebene Anonymitätsfrist abgelaufen war und sie Kontakt zueinander aufnehmen konnten. Es ist eine Frist, die dem Schutz von Spender und Empfänger dient. Die verhindern soll, dass der eine den anderen unter Druck setzt. Oder dass eine zu enge Bindung entsteht, solange noch etwas schief gehen kann. "Mir war sofort klar, dass ich den Spender kennenlernen möchte und mich bei ihm bedanken will", so Tiemann.

Doch nicht alle entscheiden sich so. Nur in vier Prozent aller Transplantationen der Deutschen Knochenmarkspenderdatei kommt es derzeit zu einer Kontaktaufnahme. Manchmal liegt es daran, dass Spender und Empfänger aus unterschiedlichen Ländern kommen und die jeweiligen Landesbestimmungen einen Kontakt verbieten. Manchmal liegt es aber auch daran, dass sich einer oder beide gegen ein Kennenlernen entscheiden. Für Ulrich Tiemann ist es ein Geschenk, dass er seinen Spender kennenlernen durfte. Auch wenn das erste Telefonat merkwürdig gewesen sei. Weil man sich vertraut war und doch so fremd. So vieles gemeinsam hatte und doch getrennt war. Mehr als 500 Kilometer. Zu weit, um sich regelmäßig zu sehen. Also telefonierten sie, schrieben sich.

Sie erfahren, dass sie sich beide schon vor Jahren als Stammzellspender haben registrieren lassen. Ulrich Tiemann, weil es seine Passion als Krankenpfleger ist, anderen zu helfen. Klaus Bauerfeind, weil er weiß, wie es ist, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Sein Sohn Jan ist damals schwer krank und braucht eine Organspende. Inzwischen hat Jan einen Teil der Leber seiner Mutter bekommen - und Tiemann die Stammzellspende von Bauerfeind.

2008 haben sich die beiden zum ersten Mal getroffen. Es gab Sekt und große Emotionen. "Das kann man nicht beschreiben. Das erlebt man nur einmal im Leben", sagt Herr Tiemann. Er ist seit 34 Jahren verheiratet, hat zwei Kinder und ein Enkelkind. "Aber so einen überwältigenden Moment gab es in meinem Leben bisher noch nie", sagt er. Früher hat er sich immer vorgestellt, selbst einmal jemandem mit einer Stammzellspende das Leben zu retten. 1995 hätte es fast einmal geklappt - doch dann sei der Empfänger vorher gestorben. "Dass ich selbst mal darauf angewiesen bin, habe ich mir nie vorgestellt", sagt Ulrich Tiemann. Doch er hofft, dass er auch mal jemandem helfen kann. Dieses Datum würde er sich vermutlich im Kalender markieren.

Informationen zur Knochenmarkspende unter www.dkms.de