Jürgen Schülke hat das neue Gis 2 im Glockenspiel des Rathauses aufgehängt. Seit gestern klingt es nach fast sechs Wochen Pause wieder.

Lüneburg. Es war Mittwoch, der 10. August. Um kurz vor sieben Uhr sah ein Passant ein Stück weißes Porzellan auf dem Pflaster vor dem Rathaus liegen - und rief prompt bei der Telefonzentrale an. "Wir sind sofort hoch auf den Turm und haben nachgeschaut", erinnert sich Jürgen Schülke. Schnell sah der Hausmeister: Das Porzellan auf der Straße gehörte zum Gis 2. Schülke stellte das Glockenspiel an jenem Morgen ab - und gestern wieder an. Da hat er gemeinsam mit seinem Kollegen die in Meißen in Auftrag gegebene Ersatzglocke aufgehängt.

Seit Hermann Liedke vor anderthalb Jahren in den Ruhestand ging, ist Jürgen Schülke das Mädchen für alles und die gute Seele des Rathauses. Gut 30 Jahre hatte sich Hermann Liedke um das im Jahr 1956 zum 1000. Geburtstag der Stadt Lüneburg eingeweihte Glockenspiel gekümmert, in den vergangenen Jahren stets mit Jürgen Schülke im Schlepptau.

"Es braucht einige Jahre, bis man den Umgang damit lernt", sagt der 50-Jährige, der vor 17 Jahren als Schächtemaurer bei der Stadt angeheuert hat und mittlerweile Vorarbeiter im Eigenbetrieb Gebäudewirtschaft ist. Schließlich kümmern sich die Männer nicht nur um die funktionierende Technik, sondern auch den rechten Klang der Glocken.

Für den sorgten gestern Jürgen Schülke und Glocken-Lehrling Nils Bornost, wie sich der 44-Jährige selbst nennt. "Wir müssen regelmäßig nachstimmen, sind mindestens alle 14 Tage hier oben", sagt Bornost. "Das geht nur zu zweit, einer muss schließlich die Leiter halten."

Der andere dreht und schraubt so lange an den Klöppeln herum, bis das Gis 2 auch sauber nach Gis II klingt. Dass die Glocken sich regelmäßig verstimmen, liegt an dem hölzernen Glockenstuhl, in dem sie hängen, erklärt Jürgen Schülke. "Der ist stark sanierungsbedürftig, hat unter der Witterung gelitten. Je nach Wetter verzieht sich das Holz anders und wir müssen die Klöppel entsprechend unterschiedlich ausrichten, weil sich der Anschlag verändert." Zurzeit hat das Team Schülke & Bornost auf "nass-feucht" eingestellt, sobald es kälter wird, werden sie nachjustieren. "Der Stuhl müsste eigentlich erneuert werden", sagt Schülke, "einige Risse sind schon so tief, dass sich die Schrauben gar nicht mehr richtig festziehen lassen."

Erneuert haben die beiden gestern mit Einbau der neuen Glocke auch diverse Lederläppchen auf den Klöppeln. Schülke: "Die waren porös und teilweise durchgeschlagen. Wir imprägnieren sie mit Ballistol-Öl, das macht das Leder unempfindlich gegen Regen und Sonne." Die für die Glocken lebensverlängernde Idee mit den Lederkuppen hatte sein Vorgänger Hermann Liedke. Das ursprünglich verwendete Elchleder war zu teuer geworden, doch nacktes Porzellan gegen nacktes Porzellan schlagen zu lassen, wurde mit der Zeit ebenfalls zu teuer - zu häufig zersprang eins der guten Stücke. Und das ist teuer, eine Glocke kostet jeweils einige Hundert Euro.

Als das neue Glocken-Duo gestern mit der technischen Seite des Spiels fertig war, machten sich Schülke und Bornost an die Musik. Zwar ist erst am Freitag Herbstanfang, doch für die paar Tage noch die Sommerlieder laufen zu lassen, war zu aufwendig. Drei verschiedene Walzen - Spezialpapier mit rechteckigen Löchern darin - liegen neben dem Spieltisch drei Stockwerke unter dem Glockenspiel: Frühling, Sommer, Herbst.

Ab heute spielen die 41 Meißner Glocken morgens gegen 8 Uhr das Erntelied, gegen 12 Uhr den Erntetanz aus der Oper "Das Erntefest" und gegen 18 Uhr wie immer das Abendlied "Der Mond ist aufgegangen", alle aus der Feder des Lüneburger Musikers Johann Abraham Peter Schulz.

Warum das Gis 2 kaputt gegangen ist, können bis heute weder Schülke und Bornost sagen noch der alte Hase Hermann Liedke. Der hatte sich die Glocke höchstselbst angesehen, und alle drei Herren der Glocken waren sich einig: "Das hatten wir noch nie." Ein vier Zentimeter breiter Ring war von der Glocke abgebrochen, nicht etwa ein Stück, wie sonst.

Bis zum ersten Frost wird das neue Gis 2 gemeinsam mit den 40 anderen Glocken noch klingen, dann stellt Jürgen Schülke das Spiel ab - und bis dahin heißt es: Wetterbericht hören. "Sobald der erste Nachtfrost angekündigt wird, läuft die Walze nicht mehr." Zu gefährlich für das Material - trotz Lederbezug und liebevoller Pflege.