Historische Funde auf der Baustelle beim Viskulenhof. Hier entsteht ein fünfstöckiges Wohngebäude. Überreste wohl bis zu 800 Jahre alt.

Lüneburg. Wenn nur diese Pfeiler nicht wären! "Die würde ich am liebsten vergessen", schimpft Jan Stammler. Der 34-Jährige ist Grabungsleiter auf der Baustelle neben dem ehemaligen Viskulenhof. Hier brannte 1932 ein Speichergebäude ab, nun soll hier ein fünfstöckiges Wohngebäude entstehen.

Ähnlich wie beim Neubau auf der Rübekuhle im vergangenen Jahr haben die sieben Grabungstechniker von der Grabungsfirma Archaeofirm aus Isernhagen auch auf dem Brauereigelände alte Grundmauern gefunden. Anders als auf der Rübekuhle war aber nur ein kleiner Teil des Gebäudes unterkellert. Das findet Stammler richtig spannend: "Man kann erkennen, wie die gewachsenen Böden hier ausgesehen haben", erklärt er. Das sehe man selten.

Mit blitzenden Augen und strahlendem Gesicht berichtet er von seinen Funden. Auch seine Frau sei Grabungstechnikerin, erzählt er, und auf der Rübekuhle sei sie auch schon dabei gewesen. "Aber im September bekommt sie ein Baby und darf deshalb die Baustelle nicht betreten", meint er traurig. Sie sei untröstlich deswegen.

Denn es gebe in Lüneburg relativ wenige Flecken, wo man noch so gut ins Mittelalter reinschauen könne - Neubauten und Bodensenkungen hätten viele historische Bauten sprichwörtlich dem Erdboden gleich gemacht. Anders auf dem Brauereigelände an der Ilmenau. Der Speicher sei möglicherweise zur selben Zeit erbaut worden wie das Kerngebäude an der Ecke, in dem sich heute das "Pons" befindet, erklärt Stadtarchäologe Edgar Ring: um 1408. Seit 1573 sei hier eine Brauerei ansässig gewesen, und der Speicher habe als Lagerort für Getreide gedient; im Keller seien Kühlräume gewesen. Wann genau der Speicher erbaut wurde, sei aber unbekannt. "Wir haben Eichenhölzer geborgen, an denen man das Alter ermitteln kann", erklärt Ring. Die Holzstücke befänden sich derzeit im Labor, ein Ergebnis steht noch aus. Einen Hinweis geben allerdings schon zwei Fundstücke, die Stammler ausgegraben hat: die Zacke eines Kamms aus Knochen oder Geweih und ein sogenanntes Drehküken von Fasshähnen aus Messing, vermutlich in Nürnberg gefertigt. Beide stammen wohl aus dem 13. oder 14. Jahrhundert, glaubt Ring.

Auch Trinkgeschirr, sogenanntes Siegburger Steinzeug, habe man im Bereich des Kellers gefunden, erzählt Grabungstechniker Stammler weiter. Interessant: Die jüngsten Stücke stammen aus dem 16., maximal 17. Jahrhundert. "Offensichtlich wurde der Keller dann wieder zugeschüttet", glaubt Archäologe Ring. Möglicherweise seien statische Probleme oder auch die Nässe der nahen Ilmenau der Grund dafür gewesen. Dass durch die eingefüllte Erde die Feuchtigkeit noch besser aufsteigen könne, habe man wohl nicht bedacht. "Das hat man ja noch bis vor kurzem so gemacht", meint er kopfschüttelnd, "die Menschen werden eben nicht klüger."

Statikprobleme aufgrund des zur Ilmenau abfallenden und möglicherweise absackenden Erdreichs seien wohl auch der Grund für die vermutlich Anfang des 20. Jahrhundert eingezogenen Pfeiler gewesen, die heute Grabungstechniker Stammler so erbosen. "Die sind für uns völlig uninteressant und stören die alte Bausubstanz", ärgert er sich. Trotzdem muss jeder einzelne Pfeiler akribisch untersucht und dokumentiert werden.

Die gesammelten Fundstücke und Daten gibt Stammler dann weiter an den Stadtarchäologen, der sie in Zusammenarbeit mit der Hamburger Universität wissenschaftlich untersuchen wird. Ist die Untersuchung abgeschlossen, könnten besonders spannende Stücke im neuen Museum ausgestellt werden, zu dem demnächst der Spatenstich erfolgen wird.

Die Grundsteinlegung zum neuen, von Bauregie Schulte entworfenen Wohngebäude wird nach derzeitigem Stand planmäßig Ende August erfolgen, erklärt Günter Quardon von der Q-Bau GmbH, dem Bauausführer. Vorher müssten aber die alten Grundmauern abgetragen werden. "Die alten Steine werden gesammelt und, wenn möglich, beim Neubau wieder verwendet", erklärt er. Möglicherweise kommen sie auch bei der Sanierung des alten Viskulenhofs zum Einsatz, die für kommendes Jahr geplant ist. Die Steine seien "in hervorragendem Zustand", auch wenn sie in Sachen Brennung natürlich nicht heutige Standards erfüllen könnten.

Sind alle sichtbaren alten Wände eingerissen, werden etwa fünfzig Stützpfeiler gegossen. Ein Spezialbohrer bohre hierfür etwa acht bis zehn Meter tiefe und im Durchmesser fünfzig bis sechzig Zentimeter breite Löcher, die dann mit Stahl und Beton gefüllt werden, erklärt Quardon. So würde auf dem schwammigen, Ilmenau-nahen Untergrund die Standfestigkeit des Gebäudes gesichert.

Im historisch-modernen Gebäude sind laut Quardon im Erdgeschoss zwei Läden geplant, auf den vier Stockwerken darüber insgesamt zwölf Wohnungen (zwei bis fünf Zimmer). "Das Konzept ist einfach gut", freut sich Archäologe Ring: "Exzellente Lage, und Blick sowohl aufs Wasser als auch auf die Nicolaikirche."