Christoph Wiesenfeldt erforschte die Geschichte der evangelischen Kirchengemeinden im Nationalsozialismus.

Lüneburg

Ein evangelischer Pastor wettert lauthals gegen den "gottlosen Bolschewismus", ehe Adolf Hitler vor das Mikrofon tritt. Diese Szene aus dem Juli 1932 bildet den Auftakt für Christoph Wiesenfeldts Chronik der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Lüneburgs in den Jahren 1918 bis 1945. Der Lüneburger Superintendent im Ruhestand beginnt darin mit der Rede des Geistlichen Gerhard Hahn aus Elmlohe bei einer NSDAP-Kundgebung auf dem MTV-Platz, weil sie ein deutliches Zeichen für den Rechtsschwenk vieler Protestanten gegen Ende der Weimarer Republik darstellt.

Die Meinung der Lüneburger Kirchenmänner gibt der Wahlkampfauftritt des Nazi-Pastors aber nicht wieder. So interpretiert Wiesenfeldt ein 1938 in einer rechten Seitenkapelle der Johanniskirche eingebautes Fensterbild als stillen Protest. Der darin abgebildete Erzengel Michael kämpft gegen einen Drachen. Das stelle den alltäglichen Kampf der Christen gegen die kirchenfeindlichen Nazis dar. Das liest zumindest Wiesenfeldt aus der Einweihungspredigt des damaligen Pastors und später langjährigen Superintendenten Oskar Meyer heraus.

Ebenso stellte Harro Kügler, Pastor der Nikolai-Gemeinde, einen Gegenpol zu dem nationalistisch geprägtem Gustav Rose dar, der als Mitglied der Organisation "Deutsche Christen" zum Superintendenten von Lüneburg eingesetzt wurde, aber bald in die Bedeutungslosigkeit abrutschte. An Roses Lebensgeschichte lässt sich der Bedeutungsverlust der Kirche im Dritten Reich nachvollziehen. Nachdem es die Nazis nicht geschafft hatten, die religiösen Gruppen "gleichzuschalten", wurden sie ab 1935 aus dem öffentlichen Leben herausgedrängt. Danach spielten sie kaum noch eine Rolle.

"Daher ist es auch so wichtig, die Vorgeschichte zu kennen", sagt Wiesenfeldt. "Damals waren die Dinge noch offen." Der Hobbyhistoriker sieht vor allem den Versailler Vertrag nach dem Ende des Ersten Weltkriegs als entscheidenden Grund, warum auch viele Lüneburger Protestanten für die Nazi-Propaganda zu begeistern waren. "Das wurde als Demütigung empfunden - auch in der Kirche." In der Folge tendierte die gesamte bürgerliche Mitte nach rechts. Wiesenfeldt: "Die evangelischen Christen schlugen sich zwar nicht mit wehenden Fahnen auf die Seite der Nazis, aber sie bremsten sie auch nicht."

Der ehemalige Superintendent stößt mit seinem Buch nach eigenen Angaben in eine Lücke. "Es wurde schon viel über Lüneburg in Zeiten des Nationalsozialismus geforscht und geschrieben, aber die Kirche blieb davon ausgespart." Das sei angesichts der dünnen Quellenlage kaum verwunderlich. Aus dem gleichen Grund fällt auch sein Kapitel "Die Kirchengemeinde und die Juden" relativ informationsleer aus: "Darüber gibt es kaum schriftliche Nachweise."

Der Autor wird sein Buch am Donnerstag um 19 Uhr in der Elisabethkapelle der St. Johanniskirche öffentlich vorstellen. Außerdem bietet Wiesenfeldt Rundgänge durch die Lüneburger Kirchen an. Dabei schildert er die Geschichte des religiösen Lebens in der Stadt vom Streit über das Alte Testament bis zur Kirchenmusik, die im Dritten Reich stark gefördert wurde. Die meisten Konzerte gab es in der Michaeliskirche, in der auch der Gefallenen des Ersten Weltkriegs gedacht wurde. Dort startet Wiesenfeldt am Sonntag gegen 14 Uhr seine Stadtführung.