Serie: Meer-Sommer, Teil 4: Das Ostseeheilbad Zingst hat sich stilvoll gehäutet. Der Ort entwickelt sich zum ersten Ziel der Fotografen, ohne die Balance zwischen Tourismus und Landschaftsschutz zu verlieren. Bettenburgen? Fehlanzeige

Zingst. Küstenfischer Siegfried Tornow beim Mittagsschlaf zu stören ist keine gute Idee. Denn wer zwischen 12 und 14 Uhr beim Zingster Original anklopft, erlebt nicht nur einen Mann, der aussieht, wie ein anständiger Küstenfischer aussehen muss. Sondern jemanden, der seinem zerfurchten Gesicht, den buschigen Augenbrauen und dem mächtigen Seemannsbart eine ziemlich grimmige Note hinzufügen kann. Bei Bitten um Erinnerungsfotos kann es dann leicht heißen: "Ich bin 66. Ich muss nicht alles mitmachen." Deshalb in aller Kürze: Frischen Fisch gibt es beim sonst sehr umgänglichen Brummbär Siegfried Tornow fast immer, aber nicht mittags. Da ruht er sich von seiner Fangfahrt aus.

Das Haus, in dem der Küstenfischer und Vormann der örtlichen Seenotretter seine äußerst schmackhafte Ware verkauft, liegt in unmittelbarer Strandnähe am Darßer Weg und ist eines der wenigen sichtbaren Relikte der DDR-Ära. Mit seiner grauen Fassade versetzt es Gäste visuell ungefähr 23 Jahre zurück. In eine Zeit, in der hinter Zingst das Niemandsland begann und sozialistischer Rauputz die Häuserwände des 3200-Einwohner-Ortes dominierte. Doch in den vergangenen Jahren hat sich Zingst gehäutet. Und wie.

Inzwischen locken nämlich nicht mehr nur der schon immer vorrätige, 15 Kilometer lange, teils menschenleere Sandstrand und die klare Ostsee. Zingst, der östliche Teil der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst, und sein gleichnamiger Hauptort sind mit Millionensummen zu stilvollen Schönheiten geworden. "Wir sprechen Familien und junge Leute an", sagt Anne Burghardt, Marketing-Chefin der Tourismus GmbH. "Allein in die jüngsten Bauten haben wir mehr als zehn Millionen Euro investiert." Wobei das Kunststück gelang, die Balance zwischen Natur und Kultur, zwischen Massentourismus und individuellen Ferien zu halten. Nicht zu vergessen: Zingst besitzt neuerdings ein Alleinstellungsmerkmal. "Wir setzen den Schwerpunkt Fotografie", sagt Burghardt. Doch der Reihe nach.

Hochhäuser oder unansehnliche Bettenburgen sucht man vergebens. Es wurde behutsam renoviert oder homogen und flach neu gebaut. Obwohl es nicht viel Platz gibt. Vom Ostseestrand im Norden zum Boddenhafen im Süden des Ortes sind es gerade einmal 800 Meter. Neueste Errungenschaft dazwischen ist das "Haus 54", ein Hostel, das sich vor allem an jüngere Kundschaft und Gruppenreisende richtet. Oder das Experimentarium, ein spannendes Versuchslabor für Kinder und Erwachsene, das auch an regnerischen Tagen Unterhaltung bietet. Aber als vielleicht augenscheinlichste Landmarke zeugt das 2006 eröffnete Steigenberger Strandhotel vom Wandel: ein weißes Vier-Sterne-Plus-Haus mit 116 Doppelzimmern, sechs Suiten, Pool und allem Komfort, das dem Ort den letzten Schliff gibt. Daneben gibt es mittlerweile mehr als 13 000 Betten in Wellnesshotels wie dem "Meerlust", in renovierten Pensionen und auf zwei Campingplätzen. Rund 250 000 Gäste bescherten dem Ort im vergangenen Jahr gut 1,5 Millionen Übernachtungen. Das verschafft Zingst zwar eine geschäftige Anmutung zwischen Reetdächern und Backstein, lässt das Städtchen aber nie überlaufen wirken.

Überlaufen wäre ohnehin der falsche Ausdruck. Denn wer auf dem Darß unterwegs ist, fährt Fahrrad. Der Deich ist voll mit Zweirädern, 15 Verleiher versorgen Gäste allein in Zingst mit fahrbaren Untersätzen. Auf gut ausgebauten Wegen kommen Besucher hervorragend voran. Tierliebhaber gelangen in den Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft mit der Vogelinsel Kirr, Badefreunde zu den lagunenartigen Küstenabschnitten im äußersten Osten und Hafennostalgiker zum entspannten Anlegeplatz mit den historischen Zeesbooten. Der Landstrich, in dem früher Soldaten Raketen testeten und schießen übten, geizt jedenfalls nicht mit reizvollen Ausflugszielen.

Doch der Grund, warum Zingst im vergangenen Jahr mit dem zweiten Preis des Deutschen Tourismusverbandes ausgezeichnet wurde, ist ein anderer, und zwar das jährliche Umweltfotofestival "Horizonte Zingst". Ende Mai/ Anfang Juni ist der Ort fest in Fotografenhand. Einzigartig und innovativ werden Tourismus und Umweltschutz seit fünf Jahren verknüpft. "Das findet man in dieser Form nirgends in Deutschland", sagt Anne Burghardt. Anders formuliert: Das kleine Zingst hat sich mit erstklassigen Ausstellungen und dem neuen, architektonisch sehenswerten Max-Hünten-Haus als Medienzentrum einen einmaligen Ruf unter Fotografie-Fans erarbeitet.

Kurator Klaus Tiedge, ein hamburgerfahrener Mann mit viel Ahnung und dezidierter Meinung, spricht von einem "Zingster Weg". Auch weil die Bilder - demnächst stellt Margot Käßmann aus - vor Ort gedruckt werden, sei das im Dezember 2011 eröffnete Max-Hünten-Haus einzigartig: "Wir drucken unsere Exponate selbst." Und wenn das nahe Örtchen Ahrenshoop schon lange den Ruf einer klassischen Künstlerkolonie genieße, sei Zingst nun ein Hotspot der modernen Kunst.

Aktuell zu besichtigen ist das in hübschen Galerien, an vielen Häuserwänden oder auf dem Postplatz. Fotografie, Fotografie, Fotografie! "Tiere sehen Dich an" heißt etwa die sehr programmatische Freiluftausstellung des bekannten Porträtfotografen Walter Schels. Unter alten Eichen blicken Affen, Mäuse und Elefanten von großformatigen, eindrücklichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Diesen künstlerischen Anspruch kann nicht jeder Ferienort bedienen. Zumal Touristen vom Ansatz eines fotografischen Schwerpunkts profitieren. Sie können sich im Max-Hünten-Haus Profi-Equipment ausleihen und damit einen der vielen Workshops besuchen.

Doch zu modern wird es trotz groß angelegter Schönheitsoperationen nie in Zingst. Tradition und Brauchtum werden hochgehalten. Wer will, kann sich beispielsweise im Museumshof mit dessen Leiter Bernd Koppehele stundenlang über formschöne Türen vom Darß unterhalten oder Bernstein in Form bringen. Zudem vermitteln das Café Rosengarten, die Kapitänshäuser oder der Rettungsschuppen zwischen Strand- und Klosterstraße einen Eindruck vom historischen Vorpommern. Baulich herrscht eine gesunde Balance aus Alt und Neu.

"Wir haben 1200 Veranstaltungen im Jahr", sagt die aus Dresden eingewanderte Marketing-Chefin Anne Burghardt, während eine Artistengruppe erstaunlich viele Touristen um sich schart. Und wer es ruhig wolle, fahre ein paar Hundert Meter Richtung Osten, um dort auf keine Menschenseele mehr zu treffen. In Richtung Osten habe es auch die Anhänger der Freikörperkultur gezogen. Obwohl dem Darß noch immer der Ruf als Nudistenhochburg vorauseilt, ist in Zingst niemand gezwungen, sich der Nacktheit anderer auszuliefern. Vielmehr küsst Natur die Kultur. Nationalpark die Fotografie. Oder, um es mit Anne Burghardt zu sagen: "Wir bieten Hirsch und Meer."