Nach dem Kreideabbruch an der Steilküste gibt es keine Hoffnung mehr, das vermisste Kind lebend zu bergen. Silvesterfeuerwerk abgesagt.

Kap Arkona. "Die Hoffnung stirbt zwar zuletzt. Aber nach 20 Stunden erfolgloser Suche ist die Aussicht, das Kind lebend zu finden, nur noch sehr gering", sagte gestern Einsatzleiter Daniel Hartlieb. Verzweifelt hatten mehr als 160 Rettungskräfte die ganze Nacht über versucht, die bei einem Kreideabbruch verschüttete Katharina N. aus Plattenburg (Brandenburg) zu finden. Sie wühlten am schmalen Strand von Kap Arkona auf Rügen durch den zwei Meter mächtigen Kreidemergel. In mühevoller Arbeit trugen die Helfer, die dabei zum Teil ihr Leben riskierten, Schlamm und Fels in Schichten ab. Die Arbeit war schwer, teilweise standen die Männer von Feuerwehr und Technischem Hilfswerk bis zur Hüfte im Schlamm. Immer wieder kletterten Spezialisten mit acht Leichenhunden über den riesigen Geröllberg, der sich am Tag zuvor nach stundenlangem Regen aus dem Kreidemassiv gelöst hatte.

Doch die Suche nach der Zehnjährigen, die mit ihrer Mutter Anett N. und ihrer Schwester Hannah, 14, unterhalb des Steilküstenhangs einen Weihnachtsspaziergang machte und dabei von dem Küstenabbruch verschüttet wurde, schien aussichtslos. Bei Windstärke 9 hielt sich auch der mit Wärmebildkameras ausgestattete Polizeihubschrauber kaum noch in der Luft. Gegen Mittag brach die Einsatzleitung die Rettungsaktion ab.

+++ Hilfskräfte stellen Suche nach verschüttetem Mädchen ein +++

"Die Entscheidung fiel uns nicht leicht", sagt Lothar Großklaus, Vize-Landrat von Vorpommern-Rügen. Doch die Aktion habe nur noch wenig Sinn und sei inzwischen zu gefährlich für die Einsatzkräfte. Am Kliff hätten sich zwei neue Risse aufgetan, und bei dem einsetzenden Sturmregen drohten die Männer am Hangfuß verschüttet zu werden. "Das Gebiet bleibt weiträumig abgesperrt. Es gibt keinen Anlass zur Hoffnung, dass das Kind noch lebt", sagte Großklaus. "Die Frage ist, wann die Bergung wieder aufgenommen werden kann", sagte die Sprecherin des Kreises Rügen-Vorpommern, Carina Schmidt, gestern Nachmittag und lobte die Rettungskräfte: "Sie haben vorbildliche Arbeit geleistet und stehen jetzt in Bereitschaft, um sofort zur Stelle zu sein, wenn die Suche wieder aufgenommen werden kann." Die Wetterverhältnisse vor Ort und der Kreidefelsen würden ständig beobachtet: "Wir schauen, wie sich die Situation vor Ort entwickelt."

Steven Anhut, 38, hatte am Nachmittag des zweiten Weihnachtsfeiertages gerade mit der Familie daheim beim Kaffee gesessen, als plötzlich gegen 15.40 Uhr sein Alarmgerät zum Einsatz rief. Keine zwölf Minuten später war er zusammen mit seinen Kameraden von der Freiwilligen Feuerwehr Putgarten am Strand unterhalb der alten Nebelstation am Gellort. "Wir trauten unseren Augen kaum." Aus der Steilwand hatte sich eine riesige Kreidescholle gelöst. Auf einem Uferfelsen saß die zitternde, schwer verletzte Anett N., neben ihr im Wasser weinte die unter Schock stehende Hannah. Mit einer Trage hievten die Helfer die beiden über die 230 Stufen zählende Steilküste hinauf zum Rettungswagen.

Es sei der erste Küstenabbruch an dieser Stelle, sagte Putgartens Bürgermeister Ernst Heinemann (Bündnis für Rügen). "Aber irgendwann musste das ja so kommen!" Erst vor zwei Jahren habe die Gemeinde den Wanderweg oberhalb des Küstenhangs um zehn Meter landeinwärts zurückbauen und am Strand vorsichtshalber Warnschilder aufstellen lassen. Erst drei Jahre zuvor hatte sich nur ein paar Hundert Meter entfernt ein Küstenabschnitt am Wall vor Arkonas berühmter slawischer Tempelburg gelöst. Dieses Mal stürzten nach tagelangen Regenfällen etwa 2000 bis 5000 Kubikmeter Kreideschollen und Mergel in die Tiefe, schätzt Heinemann. Eine vierköpfige Familie habe gesehen, wie die vor ihr laufende Frau und ihre beiden Mädchen von den Erdmassen erwischt wurden. Ein Kind sei daraufhin sofort die Treppe hinaufgerannt und habe um Hilfe gerufen. Sofort danach wurde Alarm ausgelöst. "Ich habe meine Feuerwehr-Jungs noch nie so schnell am Einsatzort gesehen", sagte Heinemann.

Gestern beschloss der Gemeinderat von Putgarten, das traditionelle Höhenfeuerwerk am Kap zum Silvesterabend abzusagen. Man könne so kurz nach diesem Unglück nicht einfach zum ausgelassenen Feiern übergehen, sagte Bürgermeister Heinemann und ergänzte: "Wir müssen vielleicht ein anderes Verhältnis zur Natur gewinnen. Dazu gehört, dass die Steilküste eben nicht mehr zu jeder Jahreszeit betreten werden kann." Auf die Frage, welche Sicherheitsvorkehrungen die Gemeinde zukünftig treffen werde, sagte Heinemann: "Wir haben inzwischen alle markanten Stellen im Umfeld des Kreideabbruchs weiträumig abgesperrt. Der Strand ist für Fußgänger nicht mehr ohne Weiteres erreichbar. Man kann den Leuten natürlich nicht verbieten, die Strände aufzusuchen. Wir müssen akzeptieren, dass Natur nicht überall, zu jeder Jahreszeit und unter allen Wetterverhältnissen erlebbar sein kann."

Auch im Heimatort des verschütteten Mädchens, in Plattenburg, herrschten gestern Entsetzen und Bestürzung. "Die Nachricht macht uns sehr betroffen", sagte Bürgermeisterin Gudrun Hoffmann und sicherte der Familie Unterstützung zu. "Wenn die Angehörigen der Hilfe bedürfen und diese auch wollen, werden wir sie natürlich unterstützen."