Großstädter verbringen in Bushcraft-Kursen eine Nacht im Wald und lernen dabei, was sie zum Überleben in der Wildnis brauchen.

Die Dunkelheit legt sich früh über den Wald an diesem lauen Novembertag. Nur der Schein des Lagerfeuers durchdringt die schwarze Luft. Das Holz ist nass. Beißender Rauch steigt in den Himmel, von dem hin und wieder Regentropfen fallen.

Rund um die prasselnden Flammen sitzen sieben Stadtmenschen. Die Sehnsucht nach der Natur hat sie aufs Land getrieben. Hier im Wald im Landkreis Harburg wollen sie die Nacht verbringen und lernen, was sie zum Überleben in der Wildnis brauchen. Bushcraft heißt die Bewegung, die das alte Wissen und die Fähigkeiten von Waldläufern und Naturvölkern wieder auf­leben lässt und auf Notsituationen vorbereiten will. In den USA sind TV-Serien über das Überleben in der Wildnis bereits Hits. Und auch bei uns laufen immer mehr Survival-Shows, etwa die Reality-Serie „Wild Island“. Doch vielen reicht das Zuschauen nicht mehr aus. Sie wollen selbst in der Wildnis zurechtkommen, ohne warmes Bett oder Kühlschrank. „In unserer technisierten Welt haben immer mehr Menschen einen starken Drang nach Natürlichkeit“, sagt Christoph Reusch von Bushcraft North, der das Outdoor-Wochenende organisiert. Der Hamburger hegt schon seit seiner Kindheit eine Leidenschaft für die Natur und alte Über­lebenstechniken. Seit diesem Jahr gibt er sein Wissen in Kursen weiter, in denen die Teilnehmer unter anderem lernen, wie sie ein Feuer entzünden, Wasser richtig filtern und welche Pflanzen und Tiere essbar sind. Ähn­liche Angebote gibt es inzwischen in ganz Deutschland.

Roman Eisenhauer lernt, mit einem
Spiegel Signale zu geben
Roman Eisenhauer lernt, mit einem Spiegel Signale zu geben © B. Dimitrov / K. Illers

Auch die Hamburgerin Katja Illers hat es in den Wald gezogen. „Ich liebe die Natur, bin in meinem Büro aber jeden Tag von weißen Wänden umgeben“, sagt sie. „Und am Wochenende in der Stadt draußen zu sein ist nicht das Gleiche wie im Wald. Erst hier konzentriert man sich aufs Wesentliche.“

Zunächst mussten die Teilnehmer ihr Gepäck sieben Kilometer in den Wald tragen. Auf dem Weg haben sie gelernt, wie sie Regen- und Fluss­wasser durch Abkochen, Filtern oder Destillieren trinkbar machen, wie sie sich mithilfe eines Kompasses und einer Karte orientieren. „Den Kompass hatte ich zwar mal in der Hand, wusste aber bisher nicht genau, wie ich ihn einsetze“, sagt Bojidar Dimitrov, der eine Reise-Website betreibt. Katja Illers: „Ein GPS-Gerät kann den Geist aufgeben. Hier lernt man, auf seine eigenen Fähigkeiten zu vertrauen.“

Im November kann man sich von Sauerampfer und Entengrütze ernähren

Dann geht es an die Arbeit: Bevor es dunkel wird, muss die Gruppe ihre Schlafplätze bauen – mit Material aus der Natur. Zwischen den dünnen Isomatten und dem Waldboden werden in der Nacht nur Äste, Farnblätter und Moos liegen. Über die natürlichen Betten sind Planen gespannt, die immerhin vor Regen schützen. Tiere können dagegen ungestört zu Besuch kommen: Käfer, Mäuse, Nacktschnecken. Nicht weit entfernt hat Christoph Reusch vor einigen Wochen sogar eine Wolfslosung gefunden. „Der Natur schutzlos aus­geliefert zu sein ist für die meisten eine ganz neue Erfahrung“, sagt der Kurs­leiter. „Da fragen sich viele: Worauf kann ich mich verlassen? Was traue ich mir eigentlich zu?“

Teilnehmerin Katja Illers baut ein
Schlaflager aus Ästen, Farn und Moos
Teilnehmerin Katja Illers baut ein Schlaflager aus Ästen, Farn und Moos © B. Dimitrov / K. Illers

Am Feuer gibt es inzwischen Tee aus gesammelten Brombeerblättern. In der Ferne sind die Schüsse eines Jägers und Kirchenglocken zu hören – eine Erinnerung an die nahe Zivilisation. Doch davon lässt sich keiner irritieren. „Stellt euch vor, ihr seid allein, habt Hunger, und es ist kalt“, sagt Christoph Reusch. „Dann braucht ihr zuerst ein Feuer.“ Dafür schaben alle Späne von einer Birkenrinde ab, die sie zuvor gesammelt haben. „Birkenrinde ist die Königsklasse des Zunders, weil sie voller ätherischer Öle steckt“, erklärt der Bushcraft-Experte. Mithilfe eines Feuerstahls schlagen sie Funken auf die Rindenspäne – bis diese tatsächlich knisternd in Flammen aufgehen. „Das ist ja wie zu Silvester“, ruft der zehnjährige Daniel. Die Gruppe wird an dem Wochenende noch andere Methoden lernen, Feuer zu machen, zum Beispiel mit Zunderpilz, Baumwollzunder oder Feuerstein.

Über den Flammen braten jetzt Heuschrecken und Maden: „In einer Notsituation sind das super Eiweißquellen“, sagt Christoph Reusch. Doch die Not scheint heute noch nicht groß genug: Die meisten greifen zum Stockbrot. Ginge es tatsächlich ums Über­leben, hätten sie auch Brennnesseln, Spitzwegerich, Entengrütze und Sauerampfer gefunden, außerdem Hagebutten, Wurzeln – und Vogel­beeren. „Aber nur zerdrückt und ab­gekocht, sonst sind die Früchte unbekömmlich“, warnt Christoph Reusch.

Ein Feuer entzünden mit Feuerstahl und
Baumwollzunder
Ein Feuer entzünden mit Feuerstahl und Baumwollzunder © B. Dimitrov / K. Illers

Früh kriechen alle in ihre Schlaf­säcke. Der Regen prasselt jetzt in großen Tropfen auf die Planen über ihren Köpfen. Der Waldboden ist nass und rutschig. Die Feuchtigkeit kriecht die „Betten“ hinauf. Und doch schlafen die meisten gut auf Ästen und Farn. „Die Nacht war richtig erholsam“, sagt der Student Roman Eisenhauer. Outdoor-Experte Christoph Reusch kennt diesen Effekt: „Viele sind überrascht, wie gut sie in der Natur schlafen.“

Als das Ende des Wochenendes naht und der Schreibtisch ruft, wandert die Gruppe zurück zu den Autos – reich an Erfahrungen und Kenntnissen. „Man war einfach nur noch im Wald, hat seine Alltagsprobleme vollkommen vergessen“, sagt Student Jannis Müller-Jehle. Er will seine neuen Fähigkeiten nutzen, um mit seinem Freund Roman Eisenhauer bald eine ganze Woche in der Wildnis zu verbringen, wahrscheinlich in Schweden. „Dafür haben wir viele nützliche Tipps bekommen“, sagt er.

Auch Katja Illers ist zufrieden mit dem Wochenende und schwärmt: „Ich fühle mich richtig ausgeglichen. An das Büro habe ich in den letzten Tagen gar nicht gedacht.“