Der Bund verzögert die Sanierung der maroden Schleuse in Brunsbüttel. Bei Vollsperrung ist auch der Umschlag im Hamburger Hafen in Gefahr.

Kiel/Berlin. Am Montag knallen am Nord-Ostsee-Kanal (NOK) vielleicht zum letzten Mal die Sektkorken. Rendsburgs Bürgermeister Andreas Breitner (SPD) und Kiels Wirtschaftsminister Jost de Jager (CDU) werden feierlich die Zufahrt zum neuen Hafen "Kiel-Canal" eröffnen, über den einmal riesige Windrotoren für Offshore-Parks in die Nordsee und mächtige Bauteile für den Belttunnel in die Ostsee verschifft werden sollen. Ob die großen Hoffnungen sich erfüllen, wird immer fraglicher. Der Bund hat den Kanal über viele Jahre so stark vernachlässigt, dass die meistbefahrene künstliche Wasserstraße der Welt schon heute nicht mehr problemlos passierbar ist und in den nächsten Jahren für große Schiffe sogar eine Vollsperrung droht.

"Ich hätte mir nie vorstellen können, dass der Bund es einmal so weit kommen lässt", sagt Breitner fassungslos. Der NOK sei schließlich nicht nur eine der wichtigsten Lebensadern für Schleswig-Holstein, sondern auch für Hamburg und seinen Hafen.

Größte Schwachstellen des Kanals sind die Ein- und die Ausfahrt durch die Schleusenanlagen in Brunsbüttel und Kiel. Hier wie dort sind eine kleine Doppelschleuse (zwei Kammern, jeweils 125 Meter lang) aus dem Startjahr des Kanals 1895 sowie eine größere Doppelschleuse (zwei Kammern, je 330 Meter lang) im Einsatz. Die Großschleusen stammen ebenfalls noch aus der Kaiserzeit (1914), laufen seit fast 100 Jahren nahezu unverändert.

In Kiel wurden die Schleusen vor 20 Jahren grundsaniert, in Brunsbüttel nicht. "Je älter die Großschleusen werden, desto mehr Probleme gibt es", klagt der Sprecher des Wasser- und Schifffahrtsamts (WSA) Brunsbüttel, Thomas Fischer. Die große Nordschleuse ist bis auf Weiteres wochentags gesperrt, weil Taucher die verzogene Führungsschiene für die Räder des elbseitigen Schleusentors reparieren.

An der anderen Kammer, der Südschleuse, sieht es noch schlimmer aus. Die Schienen des kanalseitigen Schiebetors sind hoffnungslos verzogen, weil das Fundament langsam zerbröselt. Das schwere Tor fährt jetzt auf Holzkufen, so wie es einst die kaiserlichen Ingenieure für Notfälle vorschlugen. "Das klappt besser als erwartet, ist aber keine Dauerlösung", sagt Fischer. Ist das Holz abgenutzt, sitzt das Tor fest.

Durch den Notbetrieb ist der Schiffsverkehr eingeschränkt. Größere Pötte müssen oft Stunden warten, bis sie ein- oder ausgeschleust werden. Bei den Reedern wächst der Unmut. Sie verlieren im Schleusen-Stau wertvolle Stunden und müssen zudem die Kanallotsen länger bezahlen. "Wir fahren mit offenen Augen in ein Desaster", warnt der Geschäftsführer der Kieler Schiffsagentur Satori & Berger, Jens Broder Knudsen. Dabei komme die Krise nicht aus heiterem Himmel. Bereits seit Jahren drängen Wirtschaft und Politik in Schleswig-Holstein den Bund, die Großschleusen erst in Brunsbüttel und dann in Kiel endlich auf Vordermann zu bringen, die schmale Oststrecke des Kanals auszubauen und die Wasserstraße um einen auf zwölf Meter zu vertiefen. Alles zusammen würde gut eine Milliarde Euro kosten.

"Der Kanal muss funktions- und damit wettbewerbsfähig gehalten werden", unterstreicht Wirtschaftsminister de Jager. In Berlin stößt er oft auf taube Ohren. Selbst das Sanierungskonzept für die Schleusen in Brunsbüttel, das den Bau einer fünften Schleusenkammer vorsieht, steht auf der Kippe. Die Zusatzkammer soll zwischen den beiden großen und den beiden kleinen Schleusen liegen, stolze 360 Meter lang sein. "Sie ist als Bypass gedacht", erklärt der Sprecher der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Nord (WSD), Martin Boll. Nach dem Bau der fünften Kammer könnten die alten Großkammern ohne Einschränkung des Verkehrs nacheinander saniert werden.

Die Bypass-Lösung, die bereits seit Monaten baurechtlich genehmigt ist, hat allerdings Haken. Zum einen läuft dem NOK die Zeit davon. Eine fünfte Kammer wäre erst in vier bis sechs Jahren einsatzbereit. Für die anschließende Sanierung der beiden Großkammern werden je drei Jahre veranschlagt. Zum anderen ist die Bypass-Lösung teuer. Die fünfte Kammer kostet 300 Millionen, die der Bund zusätzlich zur fälligen Sanierung der Doppelschleuse (170 Millionen Euro) aufbringen müsste.

Kanal-Weltmeister

Offiziell hat Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) die Bypass-Lösung noch nicht storniert. Sein Staatssekretär Klaus-Dieter Scheurle ließ aber durchblicken, dass der Bund in Brunsbüttel inzwischen die preiswertere Lösung ohne Bypass bevorzugt. Auf Nachfrage bestätigt das Ministerium, dass angesichts der leeren Kasse "konsequent sparsame Lösungen gesucht werden".

Das Bundesministerium räumt dabei selbst ein, dass die Sparversion für den Kanalbetrieb bittere Folgen haben könnte, weil in den bis zu sechs Sanierungsjahren jeweils nur eine Großkammer zur Verfügung steht. Wird die andere etwa beim Ein- oder Ausschleusen beschädigt, kämen größere Schiffe nicht mehr in oder aus dem Kanal. Ziel sei, den Betrieb ohne vermehrte Ausfälle zu erhalten, versichert Ministeriumssprecher Richard Schild. "Aus Erfahrungen der Vergangenheit ist jedoch mit temporären Ausfällen der Anlage durch Schiffshavarien zu rechnen."

Wirtschaftsminister de Jager formuliert es drastischer. Bei einer Sanierung ohne Bypass drohe "eine Totalblockade des Kanals". Der Präsident der Industrie- und Handelskammer zu Kiel, Klaus Hinrich Vater, befürchtet einen "verkehrstechnischen Super-GAU", für die Landtagsgrünen wäre das Schicksal des NOK besiegelt. "Die internationale Schiffsroute wird zu einem Binnengewässer." Rückendeckung im Kampf für den Kanal kommt aus Hamburg. "Für uns ist der NOK eine lebenswichtige Verkehrsader in den Ostseeraum", berichtet der Sprecher von Hafen Hamburg Marketing, Bengt van Beuningen. Mehr als 150 Zubringerschiffe mit jeweils bis zu 2000 Containern würden jede Woche elbabwärts fahren, die meisten davon weiter durch den NOK in die Ostsee. Hamburg ist der beste Kunde des Kanals. Im vergangenen Jahr wurden 21 Prozent der durch den Kanal transportierten Ladung in Hamburg umgeschlagen.

An einem Strang zieht die Wirtschaft in Norddeutschland, weil schon bei kurzzeitigen Sperrungen des Kanals weitreichende Folgen drohen. Die Containerriesen könnten wie während der Finanzkrise 2008/09 verstärkt von Hamburg auf Häfen wie Rotterdam ausweichen und von dort größere Schiffe am Nord-Ostsee-Kanal vorbei um Skagen in die Ostsee schicken. Der Schulterschluss zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein könnte gleichwohl nicht von Dauer sein. Das Bypass-Projekt in Brunsbüttel steht im Wettbewerb um die knappen Bundesmittel in Konkurrenz zur geplanten Elbvertiefung, für die der Bund 300 Millionen Euro auf den Tisch legen soll.

Die Kieler Regierung wird nicht müde, beim Bund ein Doppelpack aus Elbvertiefung und Kanalsanierung einzufordern. Erste Absetzbewegungen sind aber erkennbar. Verkehrspolitiker erinnern daran, dass das Planfeststellungsverfahren zur Elbvertiefung noch läuft, der Bund also mit dem baureifen Schleusenprojekt in Brunsbüttel beginnen könnte. Ausgeschert aus der Allianz mit Hamburg sind die Grünen. Sie setzen ganz auf den NOK, lehnen eine Elbvertiefung ab.

Im Wasser- und Schifffahrtsamt Brunsbüttel suchen die Experten unterdessen fieberhaft nach einem Weg, um die marode große Doppelschleuse irgendwie offen zu halten. Überlegt wird etwa, das bröselnde Fundament zu stabilisieren und den Kanal so zumindest über den nächsten Winter zu retten. Ramsauer lässt derweil offen, wie und wann er den Kanal sanieren will.

Die Sorge, dass Berlin den Nord-Ostsee-Kanal nicht im Blick hat, ist nicht neu. Industrie- und Handelskammer-Präsident Vater erinnert an den Versailler Vertrag von 1919, in dem die Siegermächte des Ersten Weltkrieges in den Bestimmungen zum Kieler Kanal (Artikel 380 bis 386) den Bund in die Pflicht nahmen: "Deutschland ist verpflichtet, geeignete Maßnahmen zur Beseitigung von Hindernissen oder Gefahren für die Schifffahrt zu treffen und die Aufrechterhaltung guter Schifffahrtsbedingungen sicherzustellen."

Bürgermeister Breitner mag sich nicht vorstellen, was Rendsburg ohne den Kanal wäre. Wahrzeichen der Stadt ist die mächtige Eisenbahnhochbrücke. Zudem hat Rendsburg seine Werbung ganz auf den NOK ausgerichtet: "Rendsburg - hier passiert die Welt".