Viele Sylter können sich das Leben auf der Nordsee-Insel nicht mehr leisten. Jetzt ziehen die Einheimischen aufs Festland und pendeln.

Früher stand der Dienstwagen mit der Hundebox vor der Haustür. Egal, wann er gerufen wurde, Jann-Hauke Sievertsen stieg in Keitum ins Auto und fuhr zum Einsatz. 22 Jahre lang war das so.

Bei der Polizei ist er immer noch, aber seit seinem Umzug Anfang Juni nach Langenhorn auf dem nordfriesischen Festland muss der Hundeführer zum Dienst pendeln. Jeden Morgen radelt er die paar Kilometer zum Bahnhof Langenhorn, wartet dort mit seinem Diensthund Käthe auf die Nord-Ostsee-Bahn und steigt dann in den Zug. Für Pendler wie ihn bleiben meistens nur die Stehplätze.

Der Umzug der Sievertsens war unvermeidlich. Am 4. Oktober 2010 haben sie Bescheid bekommen, dass sie aus der Dienstwohnung in Keitum ausziehen müssen. "Für Sylter Verhältnisse haben wir richtig nett gewohnt - in einer Doppelhaushälfte mit Reetdach am Ortsrand von Keitum", sagt der Polizist. Ende 2010 sollten sie das Haus geräumt übergeben. Man ließ ihnen aber doch noch ein paar Monate länger Zeit, sonst hätte Sievertsen mit seiner Familie auf der Straße gestanden. Alle Sylter Dienststellen wurden zur Polizeizentralstation Westerland zusammengezogen, damit entfallen die kleinen Dienststellen in Sylt-Ost, Wenningstedt, Hörnum und List. Die Polizeidirektion Husum hatte die Änderung der Polizeistruktur 2007 beantragt. "Es geht darum, den operativen Dienstbetrieb rund um die Uhr sicherzustellen", sagt Holger Diehr, Sprecher der Polizeidirektion Husum. Westerland erhält einen Neubau, in dem künftig die Unterstützungskräfte, die im Sommer für den Bäderdienst von Februar bis Ende September eingesetzt sind, in Einzimmer-Appartements adäquat untergebracht werden können. Polizisten wie Sievertsen mit Dienstsitz Sylt hilft das nicht.

"Zu mieten gab es auf der Insel nichts", sagt Ingke Sievertsen und streicht mit der Hand über die Fliederbüsche, die sie im Keitumer Garten ausgegraben hat, als sie das Haus nach 22 Jahren verlassen mussten. Wenn ihr jüngerer Sohn, der gerade ein Jahr in Afrika Sozialarbeit leistet, zurückkommt, gibt es sein Zuhause, das er auf Sylt verlassen hat, nicht mehr.

Ingke Sievertsen steht zusammen mit ihrem Mann auf der nackten Erde vor ihrem neuen Haus, wo der Garten noch angelegt werden muss. Sie klingt ein wenig wehmütig, wenn sie vom Garten in Keitum erzählt. Und die ausgegrabenen Büsche wirken wie ein letzter Akt ihres Widerstands gegen die Vertreibung.

Der Exodus von Syltern aufs Festland ist offenbar unaufhaltsam. Denn die Insel der Schönen und Reichen gehört gar nicht mehr den Syltern selbst. Immer mehr Ortsfremde kaufen sich auf der nordfriesischen Insel ein: "Nur 44 Prozent der Eigentumsobjekte gehören noch Ortsansässigen, 56 Prozent gehören Ortsfremden", zitiert Petra Reiber, Bürgermeisterin der Gemeinde Sylt, aus einer aktuellen Analyse. "Sylt ist nicht mehr bezahlbar. Und wenn Sie es bezahlen können, ist es ein Loch", sagt die Bürgermeisterin, die derzeit 800 Bewerber für öffentlich geförderten Wohnraum vertrösten muss.

Die Gemeinden auf dem nordfriesischen Festland verbuchen seit Jahren regen Zulauf an Neubürgern, die vor den Fantasiepreisen für Wohnraum auf Sylt kapituliert haben. "Wir sind ein Hauptansiedlungspunkt", sagt Wilfried Bockholt, Bürgermeister von Niebüll. In den vergangenen Jahren sei die Stadt pro Jahr um 100 bis 150 Neubürger gewachsen. Nicht alles Sylter, aber doch viele. Aktuell leben in der nordfriesischen Stadt, der größten hinter dem Hindenburgdamm, mehr als 10 000 Einwohner, davon etwa 9300 mit Hauptwohnsitz - eine Steigerung um fast 40 Prozent seit 1989. In den letzten zehn Jahren entstanden hier mehr als 600 Wohneinheiten. "Bei uns kriegen Sie ein Grundstück von 700 Quadratmetern für 50 000 Euro", rechnet Niebülls Kämmerer Heinrich Wohlert vor. "Und damit liegen wir in der ganzen Region schon am höchsten."

Reellen Quadratmeterpreisen von 70 Euro in dem Luftkurort stehen Mondpreise auf Sylt gegenüber. "Bauland in Kampen kostet zwischen 1750 Euro und 3500 Euro pro Quadratmeter", zitiert Wohlert aus der Bodenrichtwertkartei. Selbst im günstigsten Ort auf Sylt koste Bauland noch 260 Euro pro Quadratmeter. Laut Dahler & Company, einer Hamburger Immobilienfirma, die auch auf Sylt aktiv ist, gilt Kampen nach wie vor als Ort mit den höchsten Quadratmeterpreisen und einer überdurchschnittlichen Preissteigerung. Für frei stehende Einfamilienhäuser werden Preise zwischen vier und in Wattlage sogar bis zu 20 Millionen Euro bezahlt.

"Das Problem ist hausgemacht", sagt Petra Reiber. Die Sylter hätten Grund und Boden verkauft. "Vor dem Hintergrund, dass die Bodenpreise in den letzten fünf Jahren um 50 Prozent angezogen sind, ist das natürlich lukrativ", sagt Reiber. "Die Entwicklung ist für Sylt eine Katastrophe. Das wirkt sich auf die gesamte Infrastruktur aus." Die Zahl der Kita-Kinder ist leicht rückläufig, zwei Grundschulen, jene in List und Keitum, wurden bereits geschlossen, die Grundschule in Hörnum wird nach den Sommerferien nicht wieder geöffnet. "Danach ist Morsum dran", sagt Bürgermeisterin Reiber.

Die Zahl der Sylter Einwohner liegt bei aktuell 28 700, davon haben aber mehr als 8800 nur ihren Nebenwohnsitz auf der Insel. Die Zahl der Zweitwohnungs-Sylter ist nach Angaben des Ordnungsamtes seit Ende des Jahres 2000 um mehr als 3500 gestiegen. Damit einher ging eine Entwicklung, die Bürgermeisterin Reiber große Sorgen bereitet. Das Problem der sogenannten "kalten Betten". "Es gibt immer mehr Menschen, die es sich leisten können, ihre Wohnung auf Sylt leer stehen zu lassen. Das macht nicht nur die Infrastruktur kaputt, sondern zerstört auch den Tourismus." Denn früher seien diese Wohnungen, wenn sie nicht von den Eigentümern genutzt wurden, an Urlauber vermietet worden, die dann Kurtaxe bezahlten, Essen gingen und einkauften. Heute ist in manchen Inselorten im Winter alles tot. Die mondänen Villen stehen leer.

Ingke und Jann-Hauke Sievertsen hatten nie den Traum vom eigenen Einfamilienhaus. "Wir wollten uns auf Sylt ein Apartment kaufen, wenn mein Mann in Rente geht. So ging unsere Lebensplanung", sagt die Ehefrau des Polizisten. "Der freie Mietmarkt auf Sylt war nicht bezahlbar."

Stattdessen haben sie sich nun auf dem Festland in Langenhorn angesiedelt. Das rote Holzhaus im Neubaugebiet ist barrierefrei gebaut, sie haben für das Alter vorgesorgt. Sievertsens Diensthund Käthe, ein Belgischer Schäferhund, hat genügend Auslauf.

Wenn er mit Käthe zum Spätdienst fährt, muss er um 11.19 Uhr mit dem Zug los und kommt um 12.05 Uhr in Westerland an. Damit schafft er es rechtzeitig zum Dienstbeginn um 12.45 Uhr. Allerdings nur, wenn die Bahn pünktlich fährt und nicht gerade wieder die Lokführer streiken.

Langjährige Sylter Bekannte von Ingke und Jann-Hauke Sievertsen haben den Sprung auf das Festland schon vor Jahren gewagt. Sonja und Heinz Joachim Möller sind schon vor acht Jahren nach Niebüll gezogen. "Ich war gerade auf dem 25. Abitreffen", sagt die gebürtige Sylterin, "von den 36, die kamen, lebt keiner mehr auf Sylt." Bevor sich das Paar mit den beiden Töchtern in Niebüll ein Haus baute, lebte es in einer Mietwohnung in Westerland. Auf Sylt etwas zu kaufen, war auch für sie unerschwinglich. Dafür reichte das Geld, das der Maler, der bei der Gemeinde Sylt beschäftigt ist, und die Krankenkassenangestellte verdienen, einfach nicht.

Möller arbeitet aber weiterhin auf Sylt, und er ist auch nach wie vor Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr in Westerland. Und auch bei der in Niebüll. "Die sind froh über jeden, der da ist", sagt er. Jeden Dienstag ist Feuerwehrübung, mal auf der Insel, mal in seiner neuen Heimatstadt. Zweitwohnungsbesitzer und Feriengäste löschen nicht, wenn es brennt und leisten keine Katastrophenhilfe. Auch die Bundeswehr ist weg.

Auch die Schließung der Kasernen bedingte den Wegzug vieler Sylter. Denn viele Mietshäuser der ehemaligen Bundeswehr-Mitarbeiter wurden vom Bund vor Jahren schon meistbietend versteigert und zu Ferienhäusern umgewandelt.

"Auf Sylt sind so viele bereit, Kompromisse einzugehen. Die ziehen sogar in den Keller, um auf der Insel bleiben zu können. Viele haben Nebenjobs, um sich das Leben leisten zu können", sagt Sonja Möller, die seit ihrem Wegzug von Sylt auf dem Festland arbeitet. "Wenn alle wüssten, wie gut man auf dem Festland lebt, würden noch mehr Sylt verlassen", ist die Krankenkassenmitarbeiterin überzeugt.

Die Insel sei ein reines Tourismuszentrum geworden, finden viele Exil-Sylter, die die Entwicklung kritisch betrachten. Irgendwann müssten sich die Urlauber wahrscheinlich selbst bedienen, weil es kein Servicepersonal mehr gibt. Weil niemand mehr bereit ist, während der Saison zu mehreren in kleinen Zimmern zu hausen.

Die Insel Sylt hat inzwischen eine Gegenbewegung gestartet, um den Syltern das Bleiben zu ermöglichen. "Wir sind dabei, ein insulares Entwicklungskonzept aufzustellen", sagt Bürgermeisterin Petra Reiber. Dabei geht es um eine ortsübergreifende Planungsstrategie unter anderem für die Bereiche Infrastruktur, Verkehr und Dauerwohnungen. "Nur wenn Flächen in öffentlicher Hand sind, ist gewährleistet, dass Wohnraum in öffentlicher Hand bleibt." Derzeit würden Grundstücke gesucht, die für eine Bebauung, beispielsweise mit Erbbaurecht infrage kommen.

Das Haus in Keitum, in dem Jann-Hauke Sievertsen bis vor ein paar Wochen lebte, soll nun doch vorerst nicht verkauft werden. "Zurzeit prüft das Innenministerium, inwieweit Liegenschaften des Landes in ein gemeinsames Projekt mit der Gemeinde Sylt zur Schaffung von Dauerwohnraum einbezogen werden können", sagt Matthias Günther, Sprecher des Finanzministeriums in Kiel.

Dem Vernehmen nach hat das schleswig-holsteinische Innenministerium beim Finanzministerium interveniert, um den Verkauf zu verhindern. Begründung: Es sei auf der Insel so schwer, bezahlbaren Wohnraum für Polizisten zu finden. Für Ingke und Jann-Hauke Sievertsen kommt diese Kehrtwende zu spät. Die Insulaner sind inzwischen zu Festländern geworden.