Auffallend viele Erkrankungen in niedersächsischer Gemeinde. Energiekonzerne streiten Zusammenhang mit Gasförderung ab, Ämter suchen Ursachen.

Bothel. Es ist eine Naturlandschaft mit Wäldern, Feldern, Wiesen und rund 50 Anlagen zur Gasförderung. Kinder spielen vor neuen Eigenheimen und historischen Heidehöfen. Hühner scharren im Freien, Schafe, Rinder und Pferde weiden unter uralten Eichen. Doch durch das Idyll gehen tiefe Risse, die an vielen Häusern deutlich sichtbar sind. Und über allem steht eine gewaltige Angst der Menschen vor Krebs.

Viele Menschen in der Samtgemeinde Bothel im Landkreis Rotenburg fragen sich, ob die auffällige Anhäufung von Gasförderanlagen oder das sogenannte Fracking im Zusammenhang mit den auffällig vielen Krebserkrankungen steht. Allein um die Orte Hemslingen und Söhlingen, die auf Erdgasfeldern liegen, sind es 16 Anlagen. „In unserer Straße wohnen 20 Familien, und es gibt elf Krebserkrankungen. Ursachenforschung ist dringend nötig“, sagt Silke Döbel, Sprecherin der Bürgerinitiative für Gesundheit (BIG). „Vergangenes Jahr haben wir drei unserer Nachbarn beerdigt. Und in unseren Familien und Freundeskreisen kommen immer neue Fälle dazu.“ Silke Döbel aus Söhlingen zeigt auf das Haus gegenüber. „Drei Frauen sind dort an Krebs erkrankt.“ Zunehmend auch jüngere Menschen und nicht nur ältere Männer. Und was bislang kaum öffentlich diskutiert wird, in den Dörfern aber die Frauen bewegt, sind sich häufende Fehl- und Totgeburten, sagt Döbel. Dazu kommen immer mehr Tumorerkrankungen bei Hunden oder Pferden, die in keiner Statistik auftauchen.

Tatsächlich weist das Epidemiologische Krebsregister Niedersachsen (EKN) für die rund 8000 Einwohner zählende Samtgemeinde Bothel im Zeitraum 2003 bis 2012 eine „deutlich erhöhte Rate an Krebsfällen“ aus. Auffällig dabei sind 41 um die 60 Jahre alte, männliche Krebspatienten mit Leukämien und Lymphomen (Tumoren im Lymphgewebe), sagt Dr. Frank Stümpel vom Gesundheitsamt des Landkreises Rotenburg. „Statistisch wurden 21,3 Fälle erwartet“, sagt Dr. Stümpel, also nur etwa halb so viele.

Gemeinsam mit Rotenburgs Landrat Hermann Luttmann (CDU), Bothels Samtgemeindechef Dirk Eberle (SPD) und der BIG setzt Stümpel nun auf systematische Ursachenforschung. Alle Bürger sollen einen speziellen Fragebogen ausfüllen, der Analysen der bisherigen Statistiken erweitert. „Wir sind auf die Mithilfe aller Bürger angewiesen“, sagt Eberle. Welche Tragödien hinter den Statistiken stehen, schildert Fredi Pusch, 52, der in Hemslingen rund 500 Meter neben einer Gasförderanlage wohnt: „Diagnose Krebs ändert das Leben schlagartig. Du verlierst die Arbeit, hoffst in Krankenhäusern auf Rettung, dazu bürokratischer Irrsinn, finanzielle Not oder das Betteln um Unterstützung. Ohne meine Frau hätte ich das alles nicht durchgestanden“, sagt der ehemalige Gleisbauer.

Harte Arbeit sei er gewohnt gewesen, seit er 2003 erkrankte, könne er weder Gartenarbeit machen, noch einen Fünf-Kilo-Kartoffelsack heben. „Bemerkenswert: Meine Ärzte fragten, ob ich im Bergbau tätig war“, sagt Pusch. Er vermutet, dass Benzole seine Erkrankung auslösten. „Für mich war die Krebsdiagnose der Super-GAu“, sagt auch Anja Kremer aus Söhlingen. Bis vor einem Jahr war die taffe 45-Jährige ein Workaholic mit viel Verantwortung im Einzelhandel. „Ich kann nicht arbeiten, muss mit dem Krankengeld haushalten, das sind keine motivierenden Perspektiven“, sagt die alleinerziehende Mutter. „Die hohen Zuzahlungen für die Chemotherapie kann ich mir eigentlich gar nicht leisten.“ Die Ärzte sprachen von 30 Prozent Überlebenschancen, daran klammert sie sich mit aller Willenskraft.

Die erhöhten Quecksilberwerte in ihrem Blut sieht Anja Kremer im Zusammenhang mit dem Fracking zur Erdgasgewinnung. Auch ihr Haus steht nur wenige Hundert Meter neben einer Gasförderanlage. Genau wie das von Martin Wolf und Siglinde Marks-Wolf in Hemslingen. Ihr Haus hat im Boden, an Wänden, am Schornstein unzählige Risse, seit die Erde unter ihnen 2004 das erste Mal bebte. Die Gasanlage Söhlingen Z 16 grenzt direkt an ihr Grundstück, aber die Beweislast liegt bei den Geschädigten. Wie rund 700 Bürger aus Hemslingen und Söhlingen fordern sie, dass Wasser-, Luft- und Bodenproben ihrer Umgebung regelmäßig auf krebserregende Stoffe untersucht werden.

Die üblen Faulgasgerüche, die hier oft wahrnehmbar sind, seien beunruhigend, sagt Wolf. „Das Fracking müsste verboten werden, bis klar ist, welche Risiken es gibt – und nicht umgekehrt“, sagen die Wolfs. „Momentan fühlen wir uns wie auf einem riskanten Experimentierfeld der Gasgewinnung.“ Unter der Samtgemeinde Bothel lagern enorme Gasvorkommen, die von den Unternehmen ExxonMobil an 35 Anlagen und RWE Dea an 14 Anlagen im Raum Rotenburg auch mit der sogenannten Fracking-Methode gefördert wurden. „Allein unsere im Jahr 2014 geförderte Gasmenge von 1,6 Milliarden Kubikmetern deckt den Jahresbedarf einer Stadt wie Hamburg“, sagt ExxonMobil-Sprecher Klaus Torp.

„Etwa 75 Prozent des von ExxonMobil im Raum Rotenburg geförderten Erdgases kommen aus gefrackten Bohrungen“, rechnet Torp vor. Auch RWE Dea, die im Raum Söhlingen kein Erdgas fördert, setzt auf Fracking, sagt Unternehmenssprecher Heinz Oberlach. „Im Bundesland Niedersachsen, wo RWE Dea seit 1985 Erdgas sucht und 2014 rund 1,83 Milliarden Kubikmeter förderte, gab es zwischen Dezember 1991 und Juni 2011 insgesamt 41 sogenannte konventionelle Frac-Behandlungen, um dem natürlichen Rückgang der Fördermengen entgegenzuwirken, davon 19 an Förderbohrungen im Landkreis Rotenburg“, sagt Oberlach. „Alle Fracs fanden in rund 5000 Metern Tiefe statt, verliefen ohne Zwischenfälle und hatten keine negativen Auswirkungen auf Mensch und Umwelt.“ Beide Unternehmenssprecher schließen aus, dass die Erdbeben in der Förderregion Bothel oder die Häufung von Krebserkrankungen im Zusammenhang mit Fracking oder Gasförderung stehen.