Angeklagter gesteht Mordserie. Auch Vorgehen der Justiz und mehrerer Krankenhäuser in der Kritik

Oldenburg. Diese Mordserie ist einmalig in der bundesdeutschen Justizgeschichte: Ein 38-jähriger Krankenpfleger hat gestanden, 30 Patienten auf der Intensivstation des Delmenhorster Krankenhauses getötet zu haben, und zwar in den Jahren von 2003 bis 2005. Darüber hinaus räumte er am Donnerstag in der wegen dreifachen Mordes angesetzten Hauptverhandlung vor dem Landgericht Oldenburg auch ein, weiteren 60 Patienten ohne Grund ebenfalls das Herzmittel Gilurytmal verabreicht zu haben. Sie überlebten trotz häufig schwerer Komplikationen.

Das von einem Psychiater verlesene Geständnis stieß bei den Zuhörern auf eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Genugtuung. Im Gerichtssaal waren erneut viele Angehörige von Patienten, die in Delmenhorst oft völlig überraschend auf der Intensivstation gestorben sind. Jetzt haben viele Angehörige wenigstens die Gewissheit, dass der mutmaßliche Täter gefunden ist und sich verantworten muss. Viele Angehörige haben zuvor über Jahre zusehen müssen, wie die Staatsanwaltschaft trotz mehrfacher Interventionen nicht ermittelte.

Laut Gutachter schämt sich der Angeklagte jetzt zutiefst, zu den Motiven aber sagte er auch am Donnerstag nichts. Laut Staatsanwaltschaft habe er anfangs das Mittel eingesetzt, um sich als besonders gut geeigneter Krankenpfleger bei der Wiederbelebung zu zeigen. Später soll er aus Langeweile gemordet haben. Nach einer ersten Verurteilung wegen versuchten Mordes zu siebeneinhalb Jahren soll er zudem im Gefängnis geprahlt haben, er habe bei 50 Toten aufgehört zu zählen.

Zur ungewöhnlichen Dimension des Verfahrens gehört auch, dass die Staatsanwaltschaft inzwischen in mehr als 200 Todesfällen ermittelt. An den Krankenhäusern in Wilhelmshaven, Oldenburg und eben Delmenhorst. An allen drei Standorten hat der Angeklagte gearbeitet. Laut dem Psychiater aber hat der Mann ihm gegenüber angegeben, er habe seine Taten nur in Delmenhorst auf der Intensivstation begangen.

Staatsanwälte sollen Indizien für eine Mordserie nicht nachgegangen sein

Der Fall des Krankenpflegers ist aber nicht nur wegen der Dimension auffällig, sondern er trägt auch Züge eines Justizskandals. Nachdem er 2005 von einer Krankenschwester bei einem Mordversuch ertappt worden war, kam er wieder auf freien Fuß. Die rechtskräftige Verurteilung erfolgte erst 2008. So konnte der Mann noch fast drei Jahre als Rettungssanitäter und in einem Altenheim arbeiten. Warum das Gericht 2006 im Rahmen eines ersten Prozesses nicht wenigstens ein Berufsverbot verhängte, ist bislang ungeklärt. Schwerer noch wiegt das jetzt bei der Staatsanwaltschaft Osnabrück anhängige Ermittlungsverfahren wegen Verdachts der Strafvereitelung gegen zwei leitende Staatsanwälte in Oldenburg, die inzwischen pensioniert sind. Sie sollen über Jahre trotz gravierender Hinweise dem Verdacht nicht nachgegangen sein, dass der Mann eine Mordserie begangen haben könnte.

Inzwischen ist klar, dass sich die Zahl der Todesfälle auf der Delmenhorster Intensivstation in dessen drei Dienstjahren dort verdoppelt hat. Und vor wenigen Wochen hat das Klinikum Oldenburg das Ergebnis eigener Recherchen für die Jahre 1999 bis 2002 vorgestellt: Danach gibt es zwölf Verdachtsfälle mit Hinweisen auf Fremdeinwirkung, die zum Tode von Patienten geführt haben könnten.

Es gibt also trotz des Geständnisses noch viel Arbeit für die eigens eingesetzte Sonderkommission „Kardio“. Viele Angehörige wollen Klarheit. Die Staatsanwaltschaft hat noch für diesen Monat Entscheidungen über die Exhumierung weiterer potenzieller Opfer angekündigt und versichert, das Geständnis des Angeklagten sei nur „ein Puzzleteil“ in intensiven Ermittlungen: „Wir werden umfassend alle Sterbefälle aufklären, die im Zusammenhang mit dem ehemaligen Krankenpfleger stehen könnten.“ Und der Oldenburger Polizeipräsident Johann Kühme erklärte, die Arbeit der Sonderkommission werde mit gleicher Personalstärke weiterermitteln.

Am Klinikum Delmenhorst reagierte niemand auf die erhöhte Todesrate

Aber auch das ist noch nicht die ganze Geschichte: Das Klinikum Oldenburg hat den Mann 2002 mit einem über die Maßen guten Zeugnis regelrecht weggelobt nach Delmenhorst. Und das Delmenhorster Krankenhaus hat über Jahre nicht reagiert auf den dramatischen Anstieg der Todesrate auf der Station. Niemandem scheint zudem aufgefallen zu sein, dass der Verbrauch des Herzmedikaments Gilurytmal ebenfalls dramatisch stieg. Weswegen jetzt die Staatsanwaltschaft Oldenburg ein Ermittlungsverfahren gegen insgesamt acht Klinikmitarbeiter in Delmenhorst und Oldenburg führt wegen des Verdachts des Totschlags durch Unterlassen. Dabei geht es um frühe Gerüchte über den Angeklagten in Oldenburg ebenso wie um den Anstieg des Medikamentenverbrauchs in Delmenhorst ab 2003.

Von einem „Versagen der Akteure im Gesundheitswesen und der Justiz“ geht die Deutsche Stiftung Patientenschutz aus. Angesichts der Dimension dieses „deutschlandweit einzigartigen Falls“ müsse es darum gehen, ein Frühwarnsystem zu installieren. Die Stiftung fordert zudem die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses des niedersächsischen Landtags. CDU und FDP hätten bereits Zustimmung signalisiert. Der Appell an die Regierungsparteien SPD und Grüne: „Sie müssen sich durchringen, diese Tragödie aufzuarbeiten.“