Nordrhein-Westfale ersteigert das 110 Jahre alte Gebäude mit 18 Zimmern in Nordfriesland, in dem der 1996 verstorbene Sänger jahrelang lebte

Fresenhagen. Das nasse Gras ist schon lange nicht mehr gemäht worden, die Einfahrt zum Anwesen ist überwuchert, das Reet auf dem Dach des Gebäudes ist an vielen Stellen mit dickem grünen Moos belegt, Fenster und Mauerwerk sind teilweise in einem erbärmlichen Zustand. Der Hof Fresenhagen ganz oben in Nordfriesland nahe der dänischen Grenze hat eindeutig schon bessere Tage gesehen.

In diesem flachen Niemandsland ist deutsche Musikgeschichte geschrieben worden, als Rio Reiser und seine Band Ton Steine Scherben vor beinahe 40 Jahren aus dem lauten Berlin in einen der entlegensten Winkel der Republik zogen, um fortan von hier aus zur bekanntesten Stimme des deutschen Politrocks zu werden. Als sie sich hier ein Tonstudio einrichteten und musikalisch keine Macht für niemanden einforderten und ihren Fans lautstark erklärten: „Macht kaputt, was euch kaputt macht!“ Und als Rio Reiser später als Solokünstler zum „König von Deutschland“ wurde.

Seit Freitag ist das endgültig Geschichte. Der Rio-Reiser-Hof hat eine neue Eigentümerin. Sie kommt aus Mönchengladbach. Ihr Ehemann Pay Kaufmann, ein gebürtiger Helgoländer, war der einzige Bieter bei der Zwangsversteigerung im Amtsgericht Niebüll am Freitag. Um 10 Uhr verkündete die Rechtspflegerin Anja Cornils: Das mehr als 110 Jahre alte landwirtschaftliche Wohn- und Wirtschaftsgebäude mit 18 Zimmern, einer Wohnfläche von 600 Quadratmetern und einer Grundstücksfläche von mehr als 26.000 Quadratmetern sowie ein ehemaliges Stallgebäude sind für 180.000 Euro ersteigert worden.

„Ich hatte vor einigen Wochen noch einen Anruf von einem Interessenten, der auf dem Hof in Fresenhagen ein Rio-Reiser-Museum einrichten wollte“, sagt Gert Möbius. Er ist der älteste Bruder von Ralph Christian Möbius, der seinen bürgerlichen Namen in Anlehnung an die Hauptfigur des Romans „Anton Reiser“ von Karl Philipp Moritz schon als Jugendlicher in Rio Reiser änderte. Und der als Texter und Sänger zum bekanntesten Mitglied des Musikerkollektivs Ton Steine Scherben wurde. Jener legendären deutschen Rockband, die mit ihren Songs die Gedanken der Linken auf den Punkt brachte. Die deswegen ständig sozusagen unter Polizeischutz Musik machte. Und nach deren Konzerten es häufig noch vor Ort zu spontanen Hausbesetzungen gekommen ist.

Als Rio Reiser im August 1996 in Fresenhagen im Alter von 46 Jahren an Kreislaufversagen aufgrund innerer Blutungen gestorben ist, erreichten seine Brüder Gert und Peter, dass er auf seinem Grundstück unter einem Apfelbaum begraben werden durfte. Das Grab wurde zur Pilgerstätte. Die Brüder betrieben dort Museum, Café, Tonstudio und Konzertscheune. Sie veranstalteten Open-Air-Konzerte, um das Andenken an einen der wichtigsten deutschen Rockdichter aufrechtzuerhalten.

„Als wir die Söhne Mannheims, Marianne Rosenberg und die Fehlfarben engagiert haben, kamen bis zu 20.000 Besucher nach Fresenhagen“, sagt Gert Möbius. Das Motto: umsonst und draußen. „Finanziell war das alles ein Flop“, sagt Möbius, „aber ich wollte das Haus als Gedenkstätte etablieren.“ Er wollte auch etwas Kultur in die triste und menschenleere Region bringen, aber auf die Unterstützung des Landes durfte er nicht hoffen. Schließlich musste er schweren Herzens einen Schlussstrich ziehen und den Landkommunenhof von Ton Steine Scherben verkaufen. „Der Unterhalt war wahnsinnig teuer, das Ganze hat mich ein Vermögen gekostet. Und die Veranstaltungen, die eine wichtige Geldquelle gewesen waren, wurden immer schwieriger.“ Zu weit ab vom Schuss war der Hof, der schließlich verkauft wurde. Im Februar 2011 wurde der „König von Fresenhagen“ umgebettet, der Leichnam Rio Reisers wurde auf dem alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin begraben.

In Berlin kümmert sich Gert Möbius jetzt auch um den Nachlass seines kleinen Bruders, der auch Kinderlieder und Filmmusik komponiert hat, Musik und Texte für zahlreiche Theaterstücke schrieb, als Schauspieler in einem „Tatort“ einst einen ehemaligen Hausbesetzer spielte und zeitweise von der heutigen Grünen-Politikerin Claudia Roth gemanagt wurde. Auch sie konnte den Verkauf des Hofs nicht verhindern. „Ich habe damals einen Brief an die Kultusministerin geschrieben, aber das Land hatte kein Geld, um uns zu unterstützen“, sagt Gert Möbius. Er war froh, als er den Hof dann an eine Jugendhilfeeinrichtung verkaufen konnte. Doch der Betrieb wurde schon vor mehr als einem Jahr eingestellt.

Die neue Eigentümerin dürfte von all dem nichts gewusst haben. Ihr Mann war ziemlich erstaunt, als er nach der Versteigerung erfuhr, dass Rio Reiser hier gelebt hat und auch begraben worden ist. Und dass auf seinem neuen Anwesen einmal Hits produziert wurden. „Nein, deshalb haben wir den Hof wirklich nicht gekauft“, sagt Pay Kaufmann. Warum denn? „Wir haben das Gebäude im Internet entdeckt.“ Dann haben sie sich ins Auto gesetzt und sind in den hohen Norden gefahren. Sie haben sich das Objekt angeschaut – und ausschlaggebend für den Kauf seien schließlich bis zu 30 Millimeter große Tierchen gewesen. „Hornissen, die sich im Reetdach des Hauses eingenistet haben“, sagt Pay Kaufmann. „Ich finde es unglaublich faszinierend, diese wunderschönen Insekten zu beobachten. Das sind sehr nützliche Tiere. Die findet man woanders sonst kaum noch.“ Entgegen aller überlieferten Vorurteile seien Hornissen auch keine gefährlichen Insekten, sondern sehr friedfertig. „Sie sind zu Recht in Deutschland eine geschützte Art.“ Die Weibchen werden sogar bis zu 35 Millimeter groß.

Es lebe jetzt also die Königin von Fresenhagen.