Die Raubtiere sind zurück im Norden. Bei seiner ersten Begegnung hatte Theo Grüntjens noch Angst. Heute ist er fasziniert – und klärt andere auf

Unterlüss. Zwei tote Jungrinder auf einer Weide im Landkreis Cuxhaven, ein Verdacht: Es könnte ein Wolf gewesen sein, der die Tiere gerissen hat. Der DNA-Test steht noch aus. Für die Abnahme der Proben sind in Niedersachsen die ehrenamtlichen Wolfsberater zuständig. Im Landkreis Cuxhaven ist es Olaf Kuball, der Anfang der Woche einen Anruf bekam mit der Bitte, einmal vorbeizukommen bei dem Hof in Lamstedt. „Ich dachte, ich würde verletzte Tiere vorfinden“, erzählt er. „Als ich sah, dass sie tot sind, war ich selbst überrascht.“ Nach Hund oder Wolf sehen die Spuren an den Kadavern aus, sagt Kuball. Wenn es tatsächlich ein Wolf war, wäre das der erste Fall eines so großen gerissenen Tieres: Bislang haben Wölfe nur Schafe oder kleinere Wildtiere getötet. Mit einem Ergebnis seiner Proben rechnet der Wolfsbetreuer in sechs bis acht Wochen.

Kuball ist einer von rund 50, die das Niedersächsische Umweltministerium zu Wolfsberatern berufen hat, seit das Wildtier zurückkehrt ist und sich rasant verbreitet. Ein anderer ist Theo Grüntjens. Er ist das, was man einen besonnenen Mann nennt. Freundliche Augen, gesunde Bräune, entspanntes Gemüt. Der Diplom-Forstingenieur ist seit mehr als 30 Jahren für die 60 Quadratkilometer Land des Waffen- und Munitionsproduzenten Rheinmetall verantwortlich, der zweitgrößten privaten Forstverwaltung Niedersachsens. Wenn Grüntjens vom 115 Jahre alten Schießplatz zwischen Unterlüß und Wriedel, Faßberg und Suderburg spricht, zählt er stolz die bedrohten Arten auf, die sich dort tummeln: Schwarzstorch, Seeadler, Ziegenmelker, Birkwild.

Doch seit 2007 ist etwas anders in seinem Alltag. Seit 2007 geht Grüntjens jeden Tag mit der Hoffnung ins Gelände, wieder einen Wolf vor die Kamera zu bekommen. Seit der Förster das erste Foto von einem Wolf gemacht hat. Grüntjens will Rotwild beobachten, als plötzlich ein Wolf vor ihm auf den Sandweg steht. „Wir haben uns beide verjagt“, sagt der 62-Jährige. „Meine Haare standen zu Berge. Da kamen Urängste hoch, auch wenn die Ratio etwas anderes gesagt hat.“ Wenn Menschen heute auf seinen Veranstaltungen als ehrenamtlicher Wolfsberater des Umweltministeriums sagen, sie haben Angst vor dem Wolf, kann Grüntjens sie verstehen. Er hatte sie auch.

Seit 1996 kommt der Wolf nach Deutschland zurück. Vom ersten Rudel im Jahr 2000 in der Lausitz in Sachsen über Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern führt sein Weg nach Niedersachsen. Einzelne Tiere leben in Schleswig-Holstein und in Bayern, sich niedergelassen und Rudel gebildet haben sie dort aber noch nicht. Bekommt ein Wolfspaar Junge, verlässt der Nachwuchs die Eltern mit ungefähr 15 Monaten. Damit bleibt die Größe der Rudel immer in etwa gleich bei durchschnittlich acht Tieren.

Vier bewiesene plus zwei vermutete Rudel gibt es derzeit in Niedersachsen, hier hat sich das Tier seit dem ersten Rudel 2012 so zügig verbreitet wie kaum anderswo. Gerade hat die Landesjägerschaft wieder sechs Welpen in Munster gemeldet. Der Mensch hat schnell auf den neuen Nachbarn reagiert: Eine Arbeitsgruppe Wolf wurde gegründet, das Umweltministerium hat das Monitoring der Landesjägerschaft übertragen und die mittlerweile mehr als 50 ehrenamtlichen Wolfsberater berufen. Dort ist außerdem eine Wolfsbeauftragte angestellt: Britta Habbe.

Die promovierte Biologin weiß, dass das Thema Wolf ein emotionales Thema ist. Sie selbst will die Menschen auf die sachliche Ebene holen, durch die Brille der Wissenschaft sehen lassen. Gehört der Wolf denn nach 150 Jahren Entwicklung immer noch hierher, Frau Habbe? „Biologisch gesehen ja“, sagt die Forscherin. „Wenn sich eine früher heimische Tierart selbstständig wieder etabliert, dann gehört sie aus biologischer Sicht dorthin. Sonst würde sie nur durchziehen.“

Theo Grüntjens verlässt sich beim Dokumentieren nicht nur auf seine eigene Kamera mit 800-Millimeter-Teleobjektiv. Überall auf der Fläche von Rheinmetall hängen Kameras an Holzpfählen. Sie lösen aus, sobald der Bewegungsmelder Alarm gibt. Nachts per Infrarot, tagsüber in Farbe.

Grüntjens selbst hat zwei bis drei Monate gebraucht, bis aus Angst Faszination wurde. „Der Wolf braucht keine Wildnis, er will nur in Ruhe gelassen werden. Die Menschen müssen sich aber erst an den Wolf gewöhnen, sie hatten ja 150 Jahre nichts mit ihm zu tun.“ Bei den Wildtieren gehe das schneller, sie haben sich bereits ihre üblichen Wechsel abgewöhnt und seien nicht mehr so nervös wie vor einigen Jahren. „Bei uns wird es wohl eine Generation brauchen.“

Nicht nur die Jäger müssen wegen des veränderten Wildtierverhaltens das Jagen neu lernen. Es entstehen auch Konflikte durch die menschliche Nutzung von Natur für Freizeit und Erholung. Vor den meisten Problemen beim Thema Wolf stehen aber die Nutztierhalter, vor allem Schafzüchter und Weidetierhalter. Zwar gibt es bereits Versuche, Herdenschutzhunde oder auch Esel und Lamas zum Bewachen der Herde zu züchten und zu trainieren. Das wird aber nicht reichen. Grüntjens sagt: „Die Halter müssen das Thema Zäune sehr ernst nehmen. Eine Kordel wird nicht mehr reichen, es muss Strom drauf.“ Das wiederum kostet Geld – Geld, das Mitbewerber in anderen Bundesländern nicht investieren müssen. Das schafft Ungerechtigkeit, unfaire Bedingungen, ungleiche Konkurrenz.

Der Wolfsberater engagiert sich daher auch politisch. „Die Landesregierung muss schneller und pragmatischer handeln. Wenn die Gesellschaft den Schutz des bedrohten Wildtiers Wolf will, muss sie diejenigen unterstützen, die dadurch Nachteile haben.“

Die CDU-Fraktion im Landtag hat bereits einen Antrag gestellt, Nutztierhalter unbürokratischer zu unterstützen, wenn sie Schäden durch Wölfe zu beklagen haben. Der Celler Abgeordnete Ernst-Ingolf Angermann fordert eine Beweislastumkehr: Tierhaltern solle eine Entschädigung schon dann gewährt werden, wenn ein Wolfsriss nach Bewertung durch einen Wolfsberater nicht ausgeschlossen werden kann.

Auch Weidezäune oder andere Präventionsmaßnahmen will die CDU subventionieren. „Das gesamte Verfahren muss entbürokratisiert und beschleunigt werden“, sagt Angermann. „Das Gefährdungspotenzial für Weidetiere durch Wölfe wird steigen. Wir brauchen daher klare rechtliche Maßnahmen, die ein möglichst konfliktfreies Miteinander von Menschen, Nutztieren und Wölfen garantieren, sonst schwindet die Akzeptanz für den Wolf wieder.“ In Sachsen haben die umfangreichen Schutzmaßnahmen mittlerweile Erfolg, berichten die niedersächsischen Wolfsberater: Dort nimmt die Zahl der Schäden an Nutztieren bereits ab – obwohl sich die Wolfspopulation erhöht.