Das Dorf Kamerun bietet Großstädtern für eine Woche eine kostenlose Wohnung an. Familie Klein und ihre gemeinsame Freundin Gesine Drewes aus Hamburg testeten das Leben im Wendland

Aus dem Eierbecher baumelt Vergissmeinnicht. Die Tischdecke ist abwischbar, den Kaffee gibt’s in kräftigen Bechern. Hinter der Terrasse führen zwei Frauen Pferde vorbei. Ferien auf dem Reiterhof, in den Wäldern des Wendlands an der Elbe. Die Nachbarn machen hier Urlaub. Familie Klein aus Hamburg macht die Probe aufs Exempel: Die Großstädter testen das Landleben.

Kamerun, eine Autostunde von Hamburg, liegt hinter einem Strommast im Wald. Kein gelbes Hinweisschild führt zu den 20 Menschen und 70 Pferden. Das Schild ist weiß und so klein wie eins für einen Straßennamen. KAMERUN steht auf dem Blech, und wer das Dorf nicht sucht, findet es nicht.

Seit Frühjahr können gestresste Großstädter hier eine Woche kostenlos zur Probe wohnen. Christina Klein, Ingo Klein und Gesine Drewes tun das.

Zwei Zimmer, Bad, Pantryküche im Wohnzimmer, Laminat. Auf dem Couchtisch Zeitschriften und ein aufgeklappter Laptop, an den Wänden beliebige Bilder und eine neue Infrarotheizung.

Ingo Klein trägt Jeans und Polohemd, hat die erste Schicht Arbeit hinter sich und Kaffee gekocht. Draußen spielt irgendwo die Tochter, die Frauen tragen noch ihre Reithosen vom ersten Ritt des Tages. „Ich muss nicht jeden Tag im Büro sein“, sagt Ingo Klein. „Ich brauche aber Internet. Die wichtigste Frage ist für mich daher: Reicht das LTE-Netz hier im Wald?“

Ingo Klein stammt aus einer Reiterfamilie in Cuxhaven, für die Arbeit ist er nach Hannover und für seine Frau nach Hamburg gezogen. „Wir kommen klar“, sagt der 39-Jährige zu der Art von Leben, die er mit Frau und Kind in Hamburg führt.

Wohlfühlen klingt anders.

Vom Bauernhof floh Gesine Drewes vor 30 Jahren in die Metropole – „aus Leidenschaft“, sagt sie. Weil sie es auf dem Dorf nicht mehr aushielt, das pralle Leben der Stadt suchte, eine Ausbildung machte. Heute findet sie dieselbe Stadt einfach nur noch laut und hektisch. „Vorher hatte ich Landflucht. Jetzt ist es anders herum. Wenn ich nachts nur die Nachtigall höre, komme ich zur Ruhe.“

Vom Nordseedeich musste Christina Klein nach Hamburg ziehen, weil sie Gebärdensprache studieren wollte. Wieder raus aus der Stadt wollte sie schon immer. Dabei ist sowohl dem Ehepaar als auch der gemeinsamen Freundin klar: So gut wie jetzt werden sie es in Hamburg später wohl nie wieder treffen. Altbauwohnung, Kachelofen, Parkett, Hammer Park vor der Tür: Die Kleins rechnen mit doppelt so viel Kosten, wenn sie ihre Wohnung heute anmieten würden. Auch Gesine Drewes fällt über ihren Uralt-Mietvertrag zum Spottpreis am Dulsberg nichts Negatives ein.

Und doch fühlen sich alle drei besser, wenn sie raus sind aus der Stadt. Seit sieben Jahren machen sie gemeinsam Reiterurlaube. Seit sieben Jahren sinnieren sie abends beim Rotwein darüber, wie es wäre, auf dem Land zu leben. Dann hörten sie von dem Projekt „Leben mit Pferden“ in Kamerun – dort, wo sie vergangenem Herbst für ein Wochenende zur Reiterjagd waren.

Die müden Metropolbewohner reiten gern, doch in Hamburg finden sie keine Schulpferde, keine Ställe, keine Zeit für die Fahrwege. In Kamerun ist das alles anders. Sieben Reitlehrer arbeiten in diesem Dorf, die Region mit ihren sandigen Böden zählt zu Deutschlands beliebtesten Pferderegionen. 60 Sekunden braucht ein Kameruner vom Sofa zum Pferd. Da wird Ausnahme zu Alltag.

„Ich habe Pingpong im Kopf“, sagt Ingo Klein am Tisch mit der Eierbechervase. Vom Traum, die eigenen Pferde aus Cuxhaven in den Stall neben der eigenen Haustür zu holen, über den Wunsch, dass die Tochter nicht zwischen Straßen und Steinen aufwächst, bis zur Angst, dass Freundschaften an der Distanz scheitern.

Ehefrau Christina würde wohl ihren Job kündigen und selbstständig arbeiten. Zwar sagt sich die 39-Jährige, ob sie nun innerhalb Hamburgs 45 Minuten von einem Termin zum nächsten brauche oder auf dem Land von Ort zu Ort, das sei egal. „Ängste, wie das wohl anlaufen würde mit einer Selbstständigkeit, lauern trotzdem.“

Auch Gesine Drewes, 46, müsste sich einen neuen Job suchen – und erinnert sich noch gut daran, warum sie damals vom Land geflohen ist. „Vielleicht wird es mir hier auch wieder irgendwann zu langweilig“, sagt sie und wischt dann aber die Bedenken mit einem Schütteln des Pferdeschwanzes weg. „Aber ich kann es nicht erleben, wenn ich es nicht mache.“

Eine Woche Urlaubsgefühl als Test fürs zukünftige Leben. Reicht das? Christina Klein ist da ganz klar: „Die Woche ist für einen Eindruck. Wenn ich irgendwo ein Haus kaufen würde, zum Beispiel am Hamburger Stadtrand, hätte ich den Luxus nicht. Da könnte ich nicht mit meinen zukünftigen Nachbarn vorher in der Kneipe zusammensitzen. Da wüsste ich noch weniger, was auf mich zukommt.“

Kamerun zählt zwar nur 20 Menschen, aber eine Gaststätte mit täglichem Mittagstisch, ein Schwimmbad und eine Sauna, Fußball-, Spiel- und Reitplatz, Parcours und Halle sowie einen Selbstversorgerstall mit Paddock und Auslauf.

Und ein Bürogebäude. Das steht mitten im Dorf, rot verklinkert zwischen Apfelbäumen und Tannen. Im kleinen Laden stapeln sich Kekstüten im Regal. Keine Menschenkekse. Pferdekekse.

Hinter dem Tresen sitzt eine Frau in einem Polohemd, das einmal dunkelblau gewesen ist. Christine-Beatrix „Trixi“ Schnettler muss ihre mit dem Kameruner Sonnen-Logo bestickten T-Shirts zu häufig waschen, als dass sie ihre Farbe halten könnten.

Zwei Jahre hat die 42-Jährige mit ihrem Mann dafür gekämpft, dass die Gemeinde Göhrde den Bebauungsplan für ihr Dorf ändert. Damit sie das Projekt „Leben mit Pferden – Probewohnen auf dem Land“ starten können. „Viele können sich gar nicht vorstellen, dass es hier eine Infrastruktur gibt, die zum Leben reicht“, sagt die kräftige Frau und muss gleich darüber lachen. Selbst aus dem Großraum Hannover zum Liebsten aufs Land gezogen, hat sie „keinen Tag bereut“.

Seine Eltern, Aussteiger aus Hamburg, machten vor 40 Jahren aus dem Fleck im Wald ein Feriendorf. Mit einer Hütte haben sie angefangen, jetzt sind es 80 Wohnungen und Bungalows. Das Dorf liegt zwar in Alleinlage, wie es im Katalog heißen würde, aber die Schmuckstadt Hitzacker an der Elbe ist keine fünf Kilometer weit weg.

„Wir wollen etwas tun gegen die Landflucht“, sagt Trixi Schnettler. Sogar die Schule können die Kinder der Landtester probeweise besuchen, es gibt nicht nur Ärzte, ein Krankenhaus und Supermärkte im Radius von 20 Kilometern, sondern auch ein Gymnasium. Der Schulbus steuert das Dorf an. „Das ahnen die meisten Großstädter nicht.“

Lüchow-Dannenberg, der Landkreis mit den zwei Berühmtheiten Gorleben und Wendland, ist der am dünnsten besiedelte Landkreis Deutschlands. Und der mit den wenigsten Einwohnern überhaupt.

Dass Künstler aus Berlin und Hamburg in die Rundlingsdörfer an der Elbe ziehen, das war einmal ein Trend. Dass Castor-Transporte durch die Landschaft rollen, ist gerade vorbei. Kein Mensch weiß, für wie lange.

In die Gegend an der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt sind nach der Wende 5000 Menschen gezogen. 3000 sind schon wieder weg. Und die Prognose für 2030 lautet: noch 10.000 weniger. Macht 39.000 Einwohner, 40 Prozent davon 65 plus.

Wenn Landrat Jürgen Schulz, parteilos, zur Arbeit ins Rathaus fahren will, kann er das nicht mit dem Zug. Die Kreisstadt Lüchow besitzt keinen Bahnhof. Die Gleise – abmontiert und als Metallschrott verkauft. Nur ein Wurmfortsatz von Lüneburg nach Dannenberg hat die Streichliste der Deutschen Bahn AG überstanden. „Der Personennahverkehr war das Feigenblatt“, spricht Schulz ins Telefon und klingt bitter. „Der Lohn für den Preis der Castor-Transporte nach Gorleben.“

Der Landrat kämpft für bessere Verbindungen. Es ist ein einsamer Kampf. „Wir brauchen Infrastruktur. Eine Bummelbahn dreimal am Tag reicht nicht. Die Älteren wollen in den Zug steigen können. Dass mittlerweile auch die wegziehen, ist ein Riesenproblem für uns. Wer einmal weg ist, kommt nicht wieder.“

Landflucht ist kein Thema der Jugend mehr. Seit Jahren verlassen junge Leute mit guten Schulabschlüssen ihre Dörfer fürs Studium, die Ausbildung. Jetzt folgen ihnen die Älteren: Sie ziehen in die Städte, wo es Ärzte und Busse gibt, Schwimmbäder und Handysprechstunden für Senioren.

Lieber als von den Problemen erzählt Landrat Schulz von den Plänen einer Initiative, das Wendland zum Weltkulturerbe zu machen, von Fördertöpfen für Werbung, von Touristen und Tagesausflüglern.

Gegen die Flucht der Jungen und der Alten kann das Wohnprojekt in Kamerun kaum helfen. Das weiß auch Jürgen Schulz. Es könnte aber Leute wie Familie Klein aufs Land lotsen. Die müde sind vom Lärm der Stadt. Die sich nach Luft um ihren Häusern sehnen.

Die Hamburger Familie Klein wird sich Zeit nehmen für ihre Entscheidung. Klare Pro- und Kontra-Listen füllen. Und Trixi Schnettler wartet weiter auf neue Nachbarn im Wald.