Druck der Verbraucher und der rot-grünen Regierung in Hannover zwingt zum Umdenken. Mindestlohn für Wanderarbeiter geplant.

Hannover. Der Landkreis Vechta buchstabiert die Menschenwürde neuerdings ganz praktisch: acht Quadratmeter, Einzelzimmer, für vier Personen ein Bad und für acht Personen eine Küche, die diesen Namen auch verdient. Am Sonntag hat das Agrarland Niedersachsen das Erntedankfest gefeiert, wie es Tradition ist. Aber viele Bauern sind ins Grübeln geraten. Es dreht sich was: Die Fleischindustrie sieht sich angesichts des gewachsenen Drucks gezwungen, Tarifverträge für die Werkarbeiter abzuschließen und für ihre menschenwürdige Unterbringung zu sorgen. Die Massentierhaltung stößt längst an Grenzen der Akzeptanz, und politisch weht der Agrarindustrie seit dem rot-grünen Wahlsieg der Wind ohnehin ins Gesicht.

Nicht nur im Landkreis Vechta, auch in den Nachbarkreisen werden neuerdings die Massenquartiere der Arbeiter regelmäßig kontrolliert, im Landkreis Cloppenburg wurden binnen weniger Monate fast 300 Quartiere untersucht, 26 davon dichtgemacht. In der Region Weser-Ems, gerne als Deutschlands Fleischtopf tituliert, sind diese Quartiere unschwer auszumachen. Meist hängen nur alte Bettlaken als Gardinen an den Fenstern und normale Klingelschilder reichen nicht aus für die Listen der Namen der Arbeiter, die meist aus Rumänien und Bulgarien kommen.

Im Juli brannte in Papenburg ein solches Quartier aus, zwei osteuropäische Arbeiter starben. Sie hatten für die Meyer Werft gearbeitet, die angesichts des öffentlichen Drucks vor wenigen Wochen einen Haustarifvertrag für die Arbeiter aus Osteuropa mit Werkverträgen abgeschlossen hat. Und dann ist da noch der für Meyer so peinliche Verdacht, dass die Werkverträgler bis zu 20 Stunden am Stück geschuftet haben – entgegen allen Regeln des Arbeitsrechts. Immer neue Negativschlagzeilen fürchtet neuerdings auch die Fleischindustrie. Unter dem Druck, vor allem des Branchenriesen Tönnies, steuert jetzt auch diese Branche um. Am 22.Oktober beginnen die Tarifverhandlungen mit der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) über einen Mindestlohn für fast 80.000 Arbeitnehmer in Schlachtbetrieben und der Fleischwarenindustrie – ausdrücklich einbezogen in den anvisierten Mindestlohn sind die Werkverträgler.

Viele Jahre hatte sich die Branche hartleibig gezeigt, ihr Schwenk jetzt ist nicht nur den beiden Todesopfern geschuldet, sondern hat entscheidend damit zu tun, dass die katholische Kirche in der Region Weser-Ems sich auf die Seite der Gewerkschaft NGG und der Arbeiter geschlagen hat. Der Prälat Peter Kossen aus Vechta prangerte auf der Kanzel „mafiöse Strukturen“ in der Fleischindustrie an und kommentierte die Niedriglöhne vernichtend: „Das ist mit dem christlichen Menschenbild sicher nicht vereinbar.“

Vor Jahresfrist zum Erntedankfest hatte das Landvolk Niedersachsen noch seine Mitglieder aufgefordert, besonders kritische Predigten von Pastoren an diesem Sonntag über Massentierhaltung an die Zentrale in Hannover zu melden. Ein Sturm der Entrüstung über solche Bespitzelungsaktionen brach los, der in Niedersachsen als Landvolk firmierende und bislang fast allmächtige Bauernverband stand am Pranger.

Und das Verhältnis zwischen Evangelischer Kirche und dem Landvolk bleibt angespannt. Zwar hat Landvolkpräsident Werner Hilse dem hannoverschen Bischof Ralf Meister zum Erntedankfest eine prachtvolle Erntekrone überreicht, die Monate im Treppenhaus der Bischofskanzlei hängen bleiben soll. Aber Meister hat eben auch vor kaum vier Wochen die Fleischexporte nach Afrika kritisiert, durch die die lokalen Märkte mit Geflügelteilen überschwemmt werden und durch die die kleinbäuerlichen Betriebe in die Pleite schlittern. Meister machte sich ausdrücklich die Forderung von Experten zu eigen, dass EU und Bundesregierung die Anreize zur Überproduktion stoppen sollen, um damit den Export von Fleisch nach Afrika einzudämmen.

Das wiederum ist so gar nicht nach dem Geschmack der niedersächsischen Landwirtschaft, die bereits jetzt sechs Millionen Menschen mehr ernährt als das Land Einwohner hat. Vor allem die großen Fleischkonzerne, mit denen die Landvolkspitze über die Aufsichtsgremien stark verbandelt ist, setzt unverändert auf Expansion. Landvolkchef Hilse beklagte zum Erntedankfest, die Bauern seien derzeit in bislang ungekannter Härte Ansprüchen der Bevölkerung, aber auch Verordnungen und Erlassen ausgesetzt: „Es trifft uns schon ins Herz, wenn wir kollektiv und leider zum Teil sogar persönlichen Angriffen ausgesetzt sind.“ Er verweist auf die Vorteile der neuen Ställe: „Sie sind nicht nur größer, sondern um ein Vielfaches tiergerechter und menschenfreundlicher als alles andere, was es vorher gab.“

Und so wird es in den Erntedankgottesdiensten wohl auch viele Stoßgebete gegeben haben von Landwirten, die sich von Kritikern regelrecht umzingelt sehen, weil jetzt der Grünen-Politiker Christian Meyer auch noch neuer Landwirtschaftsminister von Niedersachsen ist. Die Grünen haben im Landtagswahlkampf Anfang des Jahres massiv Front gemacht gegen die Massentierhaltung, und sie haben damit gepunktet. Meyer wiederum macht sich folgerichtig einen Spaß daraus, die Landwirte auf die Barrikaden zu treiben, indem er von „Qualzucht“ spricht und ein neues Fleisch-Label vorschlägt: „Ausbeuterfleisch“. Die Landwirte überzieht er mit neuen Vorschriften und strengeren Kontrollen. Die reichen von der Lebensmittelsicherheit bis zur minutiösen Bestandsaufnahme über den Verbleib der Gülle in den besonders viehreichen Landkreisen. Aktuell laufen die Bauern Sturm gegen Meyers Ankündigung, das Verbandsklagerecht für Tierschutzorganisationen einzuführen. Und bei der Flurbereinigung setzt er ausdrücklich auf ein Öko-Punktesystem: „Statt bloßem Größenwachstum von Betrieben wird damit der gesellschaftliche Nutzen neu bewertet.“