Der Skandal bei den Lübecker Stadtwerken weitet sich aus. Am Mittwoch befasst sich das Arbeitsgericht mit dem Streit. Begonnen hat der Schlamassel mit einem Streit zwischen Betriebsrat und Personalleitung.

Lübeck. Die Stadtwerke Lübeck gehen schweren Zeiten entgegen. Der Geschäftsführer Stefan Fritz hat seinen Abgang angekündigt, der Skandal um den Betriebsratsvorsitzenden Jürgen Oelrich, der mehr Geld verdient hat als der Lübecker Bürgermeister Bernd Saxe, harrt weiterhin der Aufklärung. Und nun auch noch das: Die Nordland Energie GmbH, an der die Stadtwerke beteiligt sind, ist in Not geraten und muss verkauft werden. Der finanzielle Verlust überschreitet angeblich die Millionengrenze. Kein Zweifel: Wenige Tage vor der Kommunalwahl am 26. Mai sind die Stadtwerke das heißeste Thema in der Stadt.

Begonnen hat der Schlamassel mit einem Streit zwischen Betriebsrat und Personalleitung. Bei den Stadtwerken, die mehrheitlich der hoch verschuldeten Stadt Lübeck gehören, hatte sich im Laufe der Jahre offenbar eine Firmenkultur der besonderen Art herausgebildet. Eine Kultur, von der der Betriebsratschef Jürgen Oelrich, 51, ganz direkt und ganz privat profitiert hat. Wie das funktionierte, ist firmeninternen E-Mails und Aktenvermerken zu entnehmen, die dem Abendblatt vorliegen.

Oelrich, Elektrikermeister, ist seit 1988 im Unternehmen. 2001 wird er zum freigestellten Betriebsratsvorsitzenden gewählt. Damit ist er ein wichtiger Mann in diesem von der SPD geprägten Unternehmen in dieser von der SPD geprägten Stadt. 2002 wird bei den Stadtwerken, die gut 500 Mitarbeiter haben, eine Stelle frei, auf die sich Oelrich bewirbt: die Leitung der Abteilung Materialwirtschaft. Doch der Betriebsratschef hat zwei Nachteile: Erstens ist er in Vollzeit als Betriebsrat im Einsatz, kann also die Abteilung schon aus Zeitgründen gar nicht leiten. Zweitens steht Oelrich "im intern verwendeten Bewertungsschema an vierter Stelle von vier Bewerbern". So ist es in einem aktuellen Gutachten der Rechtsanwaltskanzlei Brock, Müller, Ziegenbein nachzulesen. Der Lübecker Bürgermeister hat es in Auftrag gegeben, dem Abendblatt liegt es in Auszügen vor.

Platz vier von vier Bewerbern: Das heißt, dass Oelrich chancenlos ist. Tatsächlich entscheidet sich die Geschäftsführung für einen anderen Bewerber und bittet den Betriebsrat, der Besetzung zuzustimmen. Doch der legt sich am 28. Juni 2002 quer: "Die stellvertretende Betriebsratsvorsitzende informiert den Geschäftsführer, dass der Betriebsrat der Besetzung der Stelle als Leiter Materialwirtschaft mit dem externen Bewerber (...) nur unter der Voraussetzung, dass Herr Oelrich einen Eingruppierungsausgleich nach Vergütungsgruppe III/II BAT erhält, zustimmen wird, damit keine Benachteiligung nach dem Betriebsverfassungsgesetz vorliegt", heißt es in einem Vermerk der Stadtwerke-Personalabteilung. Mit anderen Worten: Oelrich soll mehr Geld bekommen. Geschieht das nicht, verhindert der Betriebsrat die Stellenbesetzung. Am 4. Juni willigt der damalige Geschäftsführer Kurt Kuhn tatsächlich in dieses Geschäft ein.

2005 lockt der nächste Gehaltssprung. Die Geschäftsführung will eine neue Abteilung schaffen, die "Arbeitsvorbereitung". Ein Job für Oelrich? Der ist bereit, müsste dafür aber seinen Betriebsratsposten aufgeben. Dazu hat er offenbar keine Lust. Im April 2006 wird er für eine weitere Amtsperiode gewählt. Also wird der Posten des Leiters Arbeitsvorbereitung ausgeschrieben. Anfang 2007 entscheidet sich die Geschäftsführung für einen der Bewerber. Laut Personalabteilung erfolgt zugleich die Zusage an "Herrn Jürgen Oelrich, dass ihm die stellvertretende Leitung der Zentralen Arbeitsvorbereitung mit der Eingruppierung nach Entgeltgruppe 13 TV-V mit Wirkung vom 1. Juli 2007 übertragen wird, damit Herr (...) eingestellt werden kann."

Was bedeutet "damit"? Hat der Betriebsrat erneut gedroht, die Stellenbesetzung zu verhindern, wenn Oelrich nicht mehr Geld bekommt? Oder hat die Geschäftsführung das aus freien Stücken angeboten?

Tatsache ist: Der Betriebsratschef bleibt Betriebsratschef - und arbeitet nicht eine Sekunde als Abteilungsleitervize. Mit anderen Worten: Die Stelle ist überflüssig. Ohnehin besteht die Abteilung nur aus 15 Mitarbeitern. Oelrichs Vorteil: Mit dem neuen Job kommt er nun auf ein Bruttomonatsgehalt von 6.468,37 Euro. Aber es geht noch besser. Im Mai 2009 schließen die Stadtwerke mit ihm und mit dem Abteilungsleiter Arbeitsvorbereitung neue Verträge ab, die eine üppige Gehaltserhöhung mit sich bringen. Bei Oelrich sind es rund 35 Prozent, statt 6.468,37 Euro bekommt er nun 8.916,67 Euro. Einen Monat später wird ihm ein Dienstwagen gestellt, den er auch privat nutzen darf. Er hat einen Wert von rund 37.000 Euro. Seit 2008 ist er überdies im Besitz einer Firmenkreditkarte.

So geht es munter weiter. Im November 2011 wird die nächste Gehaltsstufe erklommen - mit der der Betriebsratschef den Lübecker Bürgermeister überflügelt. Oelrichs Jahresgehalt beträgt nun 111.714,84 Euro. Und es gibt noch 7.201,32 Euro betriebliche Altersversorgung obendrauf. Das Monatsgehalt steigt auf rund 9.900 Euro.

Möglicherweise wäre dieses Spiel einfach so weitergelaufen, wenn es nicht einen neuen Personalchef bei den Stadtwerken gegeben hätte: Peter Thieß, zugleich Vorsitzender der Lübecker SPD. Im Oktober 2010 stieg er ins Unternehmen ein, für die Gehaltsanhebung 2011 war er also schon mit verantwortlich. Aber dann kam es offenbar zu Spannungen zwischen dem Betriebsratschef und dem Personalchef. In Aktenvermerken und Mails von Thieß aus dem Juni 2012 ist die Rede von "Erpressungen" und einer "Druckkündigung", die der Betriebsrat erzwingen wolle, um ihn, Thieß, loszuwerden. Die Geschäftsführung beginnt nun, Material gegen Oelrich zu sammeln.

Ende 2012 kürzen ihm die Stadtwerke das Gehalt um 66 Prozent. Oelrich zieht vor Gericht. Das Verfahren läuft, die Beteiligten schweigen seitdem.

An diesem Mittwoch, vier Tage vor der Kommunalwahl, wird sich das Arbeitsgericht erneut mit dem Streit befassen. Für die Gutachter der Stadt Lübeck ist die Sache bereits klar. Die Stadtwerke hätten gegen das Begünstigungsverbot von Betriebsräten verstoßen, heißt es in ihrer Expertise. Durch das überhöhte Gehalt sei ein Schaden von 107.724,76 Euro entstanden.