Die Insulaner verlassen ihre Heimat, weil sie sich die teuren Mieten nicht mehr leisten können. Das soll sich jetzt jedoch ändern.

Kampen. Eineinhalb Stunden. So viel Verspätung hatte am Montag der Zug, mit dem Jürgen Veser vom Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik von Berlin nach Sylt reiste. Der Experte erlebte so hautnah mit, was ihn seit Monaten in der Theorie beschäftigt. Im Auftrag der Inselverwaltung und des Kieler Innenministeriums präsentierte er gestern ein Wohnungsmarktkonzept, mit dem ein Trend gestoppt werden soll, den viele Einheimische längst für unumkehrbar halten: Der Insel gehen die Insulaner aus. Bezahlbarer Wohnraum wird weniger, die Zweitwohnsitze nehmen überhand.

Ein Modellprojekt des Landes Schleswig-Holstein soll jetzt verhindern, dass irgendwann auch die letzten Sylter ihre Koffer packen müssen. 115 000 Euro hat das Innenministerium für Studien sowie Rechtsgutachten (beispielsweise dazu, wie Wohnraum vor Spekulanten geschützt werden kann) bereitgestellt - und 20 Millionen Euro für den Wohnungsbau reserviert.

Und das ist mehr als nötig: Potenzielle Arbeitskräfte, die auf Sylt schon heute fehlen, werden vom Wohnungsmangel beziehungsweise den horrenden Mieten abgeschreckt. Dazu kommt, dass allein im vergangenen Jahr 161 Insulaner auf das nahe gelegene Festland zogen. 2010 waren es, so das Meldeamt Südtondern, 122 und 2009 nur einer weniger.

Von dort aus pendeln die Exilsylter zur Arbeit dorthin, wo sie früher mal zu Hause waren. Und wenn das Bahnpersonal streikt oder wie in diesem Monat Gleisbauarbeiten die Fahrpläne einschränken, dann bleiben die Bewohner von Sylter Seniorenheimen auch mal länger in den Betten, Kinder warten auf ihre Lehrer, Geschäfte öffnen nicht pünktlich, weil das Personal noch nicht da ist. Eine Entwicklung, die sich laut der aktuellen Untersuchungen weiter verstärken wird: Bis zum Jahr 2025 sinke die Zahl der Inselbewohner um sechs Prozent. Dabei seien es vor allem Menschen im Erwerbsalter (minus elf Prozent), die der Insel den Rücken kehrten. Das werde, so heißt es in der Präsentation, den Fachkräftemangel verschärfen, die "Aufrechterhaltung der Daseinsvorsorge" schwieriger machen und zur Schließung von Einrichtungen wie Schulen und Kindergärten führen.

Um dieser Entwicklung gegenzusteuern, müssten laut Stadtentwicklern und Bauamtsmitarbeitern bis zum Jahr 2025 inselweit rund 2850 neue Dauerwohnungen geschaffen werden. Nur so könne "eine gesunde und gesellschaftsverträgliche Mischung" aus Dauerwohnen, Zweitwohnungsnutzung und Urlaubern, die Apartments mieten, gewährleistet werden. Und nur so könne, darauf weist Inselbaumeister Wolfgang Knuth hin, aufgefangen werden, dass die bisher von Syltern besessenen und bewohnten Häuser im Erbfall "zu 90 bis 95 Prozent in ortsfremde Hände gehen".

Die neuen Wohnungen müssten, so Knuth, unbedingt in kommunaler Hand bleiben: "Sonst besteht immer die Gefahr, dass sie doch zu Spekulationsobjekten werden." Denn auf Sylt ist der Boden Gold wert: Beispielsweise in Keitum kostet der Quadratmeter des von unzähligen Maklern heiß umkämpften Baulands leicht zwischen 2000 und 3000 Euro. In Kampen, wo die Grundstückspreise sogar bundesweit am höchsten sind, wird das Dilemma besonders deutlich: 560 Einwohnern stehen 1050 gemeldete Zweitwohnungsbesitzer gegenüber. Menschen, die meistens nur für ein paar Urlaubswochen auf Sylt sind. Sie wohnen in Häusern, in denen im größten Teil des Jahres kein Licht brennt.

Dabei sind nur noch 560 Kampener vermutlich nicht mal die ganze Wahrheit: Inselweit hätten acht bis zehn Prozent aller angeblichen Einwohner nämlich nur ihren "melderechtlichen Erstwohnsitz" auf Sylt. Auch das ergab die aktuelle Untersuchung und bedeutet, dass beispielsweise Paare, die eine Zweitwohnung besitzen, den einen Partner am Hauptwohnort und den anderen im Feriendomizil anmeldeten. Außerdem verlegten viele Senioren ihre erste Adresse auf die Insel, behielten ihren Lebensmittelpunkt aber irgendwo auf dem Festland. Ein Vorgehen, das Zweitwohnungssteuer spart und dem Auto das begehrte, die Überfahrt per Syltshuttle vergünstigende NF-Kennzeichen verschafft. Sylts Ordnungsamtsleiterin Gabriele Gotthard sagt zwar, dass man derartigen Verstößen nachgehe, aber wie soll eine Behörde wirklich kontrollieren, wer wann in welchem Bett schläft?

Allen Schwierigkeiten zum Trotz versuchen die Gemeinden schon länger, echte Einwohner anzusiedeln. Im Süden Westerlands werden gerade 258 Wohnungen für Sylter gebaut. Die Gemeinde Wenningstedt bereitet ein Projekt mit 60 bis 70 Dauerwohneinheiten vor. Kampen hat, so Bürgermeisterin Steffi Böhm, zurzeit über Erbpachtmodelle, Belegungsrechte und Ähnliches knapp 50 Wohneinheiten an echte Einwohner vergeben. "Damit ist der Mietmarkt für Erstwohnsitze in unserem Ort komplett in kommunaler Hand." Bis 2025 müssten es allein dort aber mehr als doppelt so viele sein.

Wo diese neuen Wohnungen entstehen und wie sie bezahlt werden sollen, ist bisher offen. Christian Hinz, der im Bauamt die insulare Entwicklungsplanung leitet, berichtet: "Wir untersuchen inselweit 170 Flächen auf ihre Eignung für die Bebauung mit Dauerwohnraum." Die Ergebnisse sollen bis Jahresende vorliegen. Schon heute steht aber fest, dass diese nicht in den Außenbereichen zu finden sein werden - sofern die Kommune nicht im Besitz der Flächen ist. Knuth: "Es gibt die inselweite Absprache, jeder Spekulation in den Außenbereichen so einen Riegel vorzuschieben."

Mit den Ergebnissen aller Untersuchungen möchten Sylter Lokalpolitiker wie Ulla Lunk-Lorek (Sylter Wählergemeinschaft) und Wolfgang Jensen (CDU) bei Land und Bund möglichst bald "Druck machen". Lunk-Lorek: "Der Bund hat schließlich noch freie Flächen auf der Insel."