Vor 25 Jahren, am 11. Oktober 1987, wurde der CDU-Ministerpräsident tot aufgefunden. Mord oder Selbstmord? Darüber wird gestritten.

Kiel. Vor dem Landeshaus in Kiel, Sitz von Landtag und Staatskanzlei, gilt 1987 Parkverbot. Verstöße dagegen sind selten. Sieht man einmal ab von einem alten Mercedes mit Bremer Nummernschild. Der Wagen steht tagsüber regelmäßig vor dem mächtigen Ziegelbau. Der Fahrer, der es auch sonst nicht so genau nimmt mit Regeln, hat kurz vor dem Jahreswechsel ein unscheinbares Büro im ersten Obergeschoss, linker Flügel bezogen. Laut Geschäftsverteilungsplan der Staatskanzlei ist er in der Regierungspressestelle zuständig für Grußworte. Der Arbeitsvertrag ist befristet, auf dem Schild an der Tür steht: Reiner Pfeiffer.

Anfang 1987 ist die Nervosität bei der CDU groß. Seit Anfang der 1950er-Jahre stellt die Partei den Ministerpräsidenten. Aber die Zeiten ändern sich mit der zunehmenden Modernisierung, langsam schwindet die Gewissheit, dass am Ende die vornehmlich ländlichen Gebiete eine sichere Bank sind für die Christdemokraten.

1983 hat der SPD-Herausforderer Björn Engholm die SPD bereits zu ihrem bislang besten Ergebnis geführt: 43,7 Prozent. Nach vier Jahren als Oppositionsführer kann er, und das ist neu, jetzt bei Bekanntheit und Beliebtheit mithalten mit dem CDU-Amtsinhaber Uwe Barschel. Hinzu kommt: Anfang 1987 - und damit kurz vor der Landtagswahl in Schleswig-Holstein - ist ein neuer Bundestag gewählt worden, die schwarz-gelbe Bundesregierung wird deutlich bestätigt. Erfahrungsgemäß neigen die Wähler anschließend dazu, bei den ersten nachfolgenden Wahlen auf Länderebene die Bäume der Sieger nicht in den Himmel wachsen zu lassen.

Noch mehr Angst aber macht der CDU, wie sich Engholm in Szene setzt: nachdenklich, moderat, kulturbeflissen. Rolf Rüdiger Reichardt, Generalsekretär der CDU auf Landesebene, forscher Berufsoffizier, rät in einem internen Strategiepapier schon Ende 1986 zur Attacke: Engholm sei "schwer zu fassen" und deshalb gelte es, ihn "in seiner Glaubwürdigkeit zu treffen, seine Glaubwürdigkeit zu erschüttern".

Ob Reiner Pfeiffer dieses Papier je gelesen hat? Auf jeden Fall macht er sich daran, genau diese Stoßrichtung umzusetzen. Er formuliert eine anonyme Steueranzeige gegen den SPD-Herausforderer, er lässt ihn mit fast unvorstellbarer Dreistigkeit von Detektiven beschatten, er ruft Engholm als "Dr. Wagner" an und erzählt ihm, er, Engholm, habe sich möglicherweise bei einem Freund mit Aids angesteckt. Wenige Tage später veröffentlicht die Regierungspressestelle eine Pressemitteilung des Ministerpräsidenten zum Thema Aids - ohne jeden aktuellen Bezug und initiiert und verfasst von Barschel.

Ab Juli dann wird aus Barschels Mann fürs Grobe sogar eine Art Doppelagent: Er sucht den Kontakt zum SPD-Pressesprecher Klaus Nilius, erzählt ihm freimütig von seinen Machenschaften, Anfang September kommt es zu einem Treffen mit dem SPD-Landesvorsitzenden und späteren Sozialminister Günther Jansen. Auf dem Umweg über seinen Anwalt erfährt sogar Engholm die wichtigsten Fakten. Weil er das aber in den folgenden dramatischen Wochen leugnet, wird er fünf Jahre später selbst seinen Hut nehmen müssen als Ministerpräsident, als SPD-Bundesvorsitzender und designierter Kanzlerkandidat der SPD.

Erst einmal aber schlägt die Stunde des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel". Eine Woche vor der Landtagswahl berichtet das Blatt noch etwas nebulös von einer anonymen Steueranzeige, von einer Bespitzelungsaktion. Am Tag vor der Landtagswahl dann gibt es für die landespolitischen Korrespondenten in Kiel den "Spiegel" ausnahmsweise schon frei Haus. "Barschels schmutzige Tricks" lautet ganz ohne Fragezeichen die Schlagzeile, Reiner Pfeiffer ist der Kronzeuge.

Dass dieser Mann seit rund zwei Monaten eine Art Doppelspiel getrieben hat, geht beinahe unter. Erst Jahre später werden kritische Christdemokraten sich auf die Frage versteifen, ob jemand (also Engholm und die SPD) Opfer sein kann, der von den gegen ihn gerichteten Machenschaften gewusst hat. Was ganz so einfach auch wieder nicht ist, weil Pfeiffer sein doppeltes Spiel erst begann, als er seine Aktionen bereits durchgezogen hatte.

Erst einmal aber steht die Republik ab dem 13. September Kopf, einen vergleichbaren Skandal hat es noch nicht gegeben: Aus dem kleinen Bundesland mit der rekordverdächtig hohen Arbeitslosigkeit wird ein "Skandal-Land". Es kommt zum sprichwörtlich gewordenen politischen Ehrenwort von Barschel am 18. September, eine Woche später tritt er zurück, wenige Tage später fordert die eigene Fraktion ihn auch zum Mandatsverzicht auf. Die Lage in Kiel ist verfahren: Die SPD ist nach mehr als 40 Jahren erstmals stärkste Kraft, aber SPD und SSW verfügen mit zusammen 37 Mandaten über die gleiche Anzahl wie andererseits auch CDU und FDP. Das Land ist nicht nur gelähmt ob der Affäre, sondern wegen des Patts auch praktisch ohne Regierung.

Am 11. Oktober dann wird aus dem Politthriller eine Tragödie: An diesem sonnigen Herbstsonntag bestätigt das Landeskriminalamt in Kiel am Mittag die umlaufenden Gerüchte: Uwe Barschel ist tot im Genfer Hotel Beau Rivage gefunden worden - in der Badewanne. Das Bild geht um die Welt und beschleunigt noch einmal, was sich im Ergebnis der Landtagswahl drei Wochen zuvor schon angedeutet hat: Es kommt bei der Wiederholungswahl am 5. Mai nach fast 40 Jahren zum ersten Regierungswechsel. Die CDU wird 17 Jahre brauchen, ehe sie mit Peter Harry Carstensen wieder einen Ministerpräsidenten stellt.

Reiner Pfeiffer verschwindet in der Versenkung - bis fünf Jahre später bekannt wird, dass SPD-Sozialminister Günther Jansen daheim in der Schublade Geld für ihn gesammelt und ihm das Geld durch den früheren SPD-Pressesprecher Nilius als Boten hat aushändigen lassen - angeblich aus Mitleid und keinesfalls als Bezahlung. Rund 50 000 Mark, die jetzt erst Jansen und dann auch Engholm den politischen Kopf kosten: Rücktritt von allen politischen Ämtern. Was Engholm damals hätte unschwer rechtfertigen können - nämlich seine Kenntnis der Machenschaften ab Anfang September 1987 - hat er nicht einfach verschwiegen, sondern darüber den Untersuchungsausschuss glatt belogen. Es ist nicht nur das Ende einer Karriere, sondern auch ein Fehler mit politischer Folgewirkung: Gegen den wenig populären SPD-Ersatzkanzlerkandidaten Rudolf Scharping gewinnt Bundeskanzler Helmut Kohl 1994 die Bundestagswahl. Engholm hätte es in der Hand gehabt, die Ära Kohl vier Jahre früher zu beenden.

1993 geht ein neuer Untersuchungsausschuss noch einmal den Dingen auch aus dem Jahr 1987 auf den Grund und protokolliert massive Zweifel, ob Barschel wirklich in dem Ausmaß involviert war in Pfeiffers Machenschaften, wie das fünf Jahre zuvor noch einstimmig festgestellt worden war. Seither plagt sich das kleine Bundesland mit einem Glaubenskrieg herum, der wohl erst enden wird, wenn ein weiteres Dutzend Bücher geschrieben ist.

Auf der anderen Seite hat der "Spiegel" irgendwann erkannt, dass seine vehemente Verteidigung der Selbstmordvariante wohl dem eigenen, all zu mutigen Indikativ der Schlagzeile von Barschels schmutzigen Tricks geschuldet war. Was die Mordanhänger gerne verdrängen: Barschel war kein Unschuldslamm. Er hat gelogen. Schwerer wiegt, er hat enge persönliche Mitarbeiter, wie seine Chefsekretärin, zur Abgabe einer falschen eidesstattlichen Erklärung überredet. Als die Sekretärin zögerte, so ihre spätere Aussage, habe er sie gefragt, ob sie religiös sei, und dann gedrängt: "Ja, wollen Sie denn, dass die SPD an die Macht kommt?"

Im neuen Landtag in Kiel sitzt kein einziger Abgeordneter mehr, der schon vor 25 Jahren dabei war. Nur das Parkverbot vor dem Landeshaus in Kiel hat die Irrungen und Wirrungen der schleswig-holsteinischen Landespolitik unbeschadet überstanden. Reiner Pfeiffer hat das Landeshaus nur noch als Zeuge vor den beiden parlamentarischen Untersuchungsausschüssen betreten. Er lebt heute in der Nähe von Bremen, 73 Jahre alt, schwer krank von einer schmalen Rente. Björn Engholm ist Privatier, seltener Gast in Talkshows.

Den Schleswig-Holstein-Saal des Landeshauses, wo Barschel erst sein Ehrenwort gab und dann seinen Rücktritt erklärte, gibt es nicht mehr. Er musste dem Neubau des Plenarsaals weichen. Aber immer wieder gibt es Besucher, die fragen: "Wo ist der Ehrenwortsaal?"