Betreiber E.on will das abgeschaltete Atomkraftwerk mit nur einem Transformator wieder hochfahren. Oppositionspolitiker sehen Sicherheitsrisiko

Brokdorf. Das Atomkraftwerk Brokdorf schreibt erneut Geschichte. Der Meiler an der Unterelbe, der erst so umstritten und dann so erfolgreich war wie kein anderer in Deutschland, ist der erste Reaktor, der nach der Energiewende in Berlin wegen einer Panne abgeschaltet wurde.

Brokdorf ist damit der große Testfall dafür, wie die Kraftwerksbetreiber mit dem neuen Atomrecht umgehen, bei dem jede Produktionspause anders als bisher Millionenverluste nach sich zieht. Wieder angefahren wird der Reaktor frühestens Ende nächster Woche, möglicherweise aber auch erst im September oder Monate später.

"Für E.on stand und steht Sicherheit an erster Stelle", sagt Konzernsprecherin Petra Uhlmann. Sie lässt zugleich keinen Zweifel daran, dass der Betreiber den Reaktor mit einer unkonventionellen Lösung schnell wieder ans Netz bringen will. Nach dem Defekt des Transformators AT01, der am vergangenen Sonntag zur Abschaltung des Reaktors führte, soll der Meiler allein mit dem zweiten Trafo (AT02) wieder anlaufen. Brokdorf könnte so zumindest 50 Prozent der üblichen Strommenge liefern und den Schaden für E.on damit halbieren. Jeder Tag, an dem das Kraftwerk komplett stillsteht, kostet den Konzern bis zu eine Million Euro.

Solche Verluste konnten die Betreiber bisher ausgleichen. Im früheren rot-grünen Ausstiegsgesetz wurde jedem Reaktor eine bestimmte "Reststrommenge" zugebilligt. Ein Meiler durfte nach einer Zwangspause also entsprechend länger laufen. Diese Möglichkeit gibt es nach dem neuen Ausstiegsgesetz, das der Bundestag vor dem Sommer verabschiedete, für die letzten neun deutschen Reaktoren nicht mehr. Ihr Betriebsende ist fest terminiert. So muss Brokdorf 2021 eingemottet werden, unabhängig davon, wie viel Strom der Meiler bis dahin produziert. "E.on will Brokdorf deshalb so schnell wie möglich wieder ans Netz bringen", sagt der Atomexperte der Grünen im Kieler Landtag, Detlef Matthiessen. Ein "Frühstart" des Reaktors mit nur einem Trafo gehe zulasten der Sicherheit.

Kritik üben auch SPD und SSW. "Brokdorf darf nicht zum Experimentierfeld gemacht werden", so der SPD-Landtagsabgeordnete Olaf Schulze. Noch deutlicher wird der SSW-Landesvorsitzende Flemming Meyer: "Ein halbes AKW Brokdorf darf nicht ans Netz gehen." Wenn bei einem Flugzeug das eine Triebwerk ausfalle, komme auch niemand auf die Idee, damit zu starten und nur halb so schnell zu fliegen.

Über solche Vergleiche schüttelt Uhlmann den Kopf. "Brokdorf kann auch mit einem Trafo sicher betrieben werden." Die schleswig-holsteinische Atomaufsicht, die als sehr kritisch gilt, stimmt E.on hier im Prinzip zu. "Ein Betrieb mit einem Trafo ist technisch grundsätzlich möglich", bestätigt Aufsichtschef Wolfgang Cloosters dem Abendblatt. Es gebe sogar Kraftwerke, die hätten nur einen einzigen Trafo. Voraussetzung ist allerdings, dass der AT02 in Brokdorf besser in Schuss ist als der Pannen-Trafo.

Die genaue Ursache des Blackouts im AT01 ist weiterhin unklar. Vieles spricht dafür, dass der mächtige Trafo, der so groß wie ein Einfamilienhaus ist, aufgrund eines Defekts überhitzte. Ein Teil des Öls, mit dem der Trafo gekühlt wird, vergaste. Der sogenannte Buchholzschutz, ein Kontrollrelais, schaltete den Trafo ab, verhinderte so einen Brand wie im Meiler Krümmel 2007. Der Generator und die Turbinen in Brokdorf schalteten sich ebenfalls planmäßig ab. Brenzlige Situationen wie einst in Krümmel gab es wohl nicht. "Wir haben bisher keine Hinweise, dass es bei dem Vorfall in Brokdorf zu Besonderheiten gekommen ist", berichtet Cloosters. Unklar ist, ob der AT02 wirklich funktionsfähig ist. Der Trafo ist wie der AT01 mehr als 25 Jahre alt, gehört zu Erstausstattung des größten AKW in Deutschland und wird jetzt genau untersucht. "Mit Ergebnissen rechnen wir in der nächsten Woche", so Uhlmann. Ist der Trafo intakt, soll Brokdorf in den Folgetagen anlaufen. Gibt es Mängel, wird es teuer für E.on. Der Konzern müsste dann beide Transformatoren austauschen.

Umstritten ist nicht nur die Frage, wie und wann der Meiler anfahren darf. Die Grünen haben generelle Sicherheitsbedenken. Im Zuge der Jahresrevision im Juli war festgestellt worden, dass einige der 193 Brennelemente sich verformt haben. Die Abweichungen sind nach Einschätzung der Atomaufsicht allerdings so gering, dass der Reaktor weiter sicher gefahren und abgeschaltet werden kann. Vorsichtshalber sollen die Brennelemente jetzt regelmäßig überprüft werden.

Die Spannung, mit der die Energiebranche und die Anti-AKW-Bewegung derzeit nach Brokdorf blicken, erklärt sich nicht nur daraus, dass erstmals das neue Atomrecht zur Anwendung kommt. Der Meiler hinter dem Elbdeich hat insbesondere für die Atomkraftgegner eine große symbolische Bedeutung. Vor 35 Jahren protestierten Zehntausende gegen den Bau des dritten Atomkraftwerks in Schleswig-Holstein, vor 30 Jahren zogen sogar an die 100 000 AKW-Gegner durch die Wilstermarsch. Die bis dahin größte Protestaktion gegen die Atomkraft, bei der es am Bauzaun zu einer Schlacht mit der Polizei kam, gilt als eine der Geburtsstunden der Anti-AKW-Bewegung und auch der Grünen.

Brokdorf schrieb damals sogar deutsche Rechtsgeschichte. Das vom Kreis Steinburg verhängte Demo-Verbot wurde 1985 vom Bundesverfassungsgericht mit dem legendären "Brokdorf-Beschluss" kassiert. Demnach sind Demos aus aktuellem Anlass auch ohne behördliche Genehmigung nach dem Grundgesetz zulässig. Ein Jahr nach dem Urteil ging Brokdorf in Betrieb, als erster Reaktor nach der Katastrophe von Tschernobyl, und sorgte fortan für meist positive Schlagzeilen. In dem Kraftwerk gab es anders als in den Meilern Brunsbüttel und Krümmel keine größeren Störfälle, und gleich zweimal wurde das Kraftwerk "Weltmeister". 1992 und 2005 produzierte der Meiler mehr Strom als jedes andere Atomkraftwerk weltweit.

Von der Erfolgsgeschichte profitiert auch die öffentliche Hand. Das Kraftwerk zahlt für die "Entnahme" des Kühlwassers aus der Elbe jährlich mehr als zehn Millionen Euro in die leere Landeskasse und hat die Gemeinde Brokdorf zu einem der reichsten Orte in Schleswig-Holstein gemacht.