Nach dem Fall Dennis: Eine Frau schildert ihre Erlebnisse in drei Pflegefamilien und welchen Schaden die Seele nimmt, wenn man nicht geliebt wird

Hamburg. Marlies Sander wohnt mit ihrer Familie im Hamburger Umland. Wo genau sie lebt, soll niemand wissen, weil sie unerkannt bleiben will. Auch der Name ist geändert. "Ich sehne mich nach Normalität. Ich bin für meine Bekannten Marlies und nicht das arme Pflegekind", sagt die 43-Jährige. Mit dem Kainsmal, ein Pflegekind gewesen zu sein, müsse sie leben. Noch heute leide sie unter den Spätfolgen ihrer Odyssee durch mehrere Pflegefamilien.

Nach dem ersten Bericht über das Pflegekind Dennis hat sich Marlies Sander beim Abendblatt gemeldet. Der Fall berührt sie, weil er sie an ihre eigene Vergangenheit erinnert. Sie könne gut nachempfinden, was in Dennis vorgehen muss. Sie wolle helfen, dass dies auch andere verstehen können. Der Fünfjährige war per Gerichtsbeschluss von seiner Pflegefamilie getrennt und in ein Heim gesteckt worden - weil sich seine Pflegeeltern, letztlich erfolglos, gegen schädliche, unbegleitete Besuche beim leiblichen Vater und dessen Mutter gewehrt hatten.

Marlies Sander - zierlich, lange, blonde Locken - sitzt auf der Terrasse ihres Hauses. Das Grundstück ist von Bäumen umstanden, auf der Wiese wuchert wild das Grün. Die 43-Jährige wirkt selbstbewusst und verletzlich zugleich. Sie lächelt und strahlt doch eine tiefe Traurigkeit aus.

"Jahrelang habe ich mich für meine Vergangenheit geschämt", sagt sie. Nicht einmal enge Freunde kennen ihre Geschichte. Lange habe sie alles mit sich herumgeschleppt, lange ging es gut. "Alle hielten mich für einen sehr fröhlichen, sehr selbstbewussten Menschen." Doch dann, wie aus heiterem Himmel, wurde sie von ihren Ängsten überrollt. Seit einigen Jahren ist sie deshalb in psychotherapeutischer Behandlung.

Marlies Sander, in einer ländlichen Gegend in Hessen geboren, war fünf Jahre alt, als das Jugendamt sie und die zwei Schwestern von ihren Eltern trennte, der Vater alkoholsüchtig, die Mutter geistig zurückgeblieben. Nachbarn hatten das Jugendamt verständigt, weil die Kinder verwahrlost waren. "Eines Tages holten mich Amtsmitarbeiter vom Kindergarten mit dem Auto ab." Zunächst habe sie die Situation als wenig bedrückend empfunden. "Auch meine Schwestern wurden abgeholt, da dachte ich: ist wohl nicht so schlimm." Sie und ihre zweitälteste Schwester seien dann in eine Pflegefamilie gekommen, die älteste in eine andere.

Dem Jugendamt könne sie keinen Vorwurf machen. "Meine Familie war kaputt, dass wir da herauskamen, war höchste Eisenbahn." Und doch sei die jähe Entwurzelung aus dem gewohnten Umfeld für sie "traumatisch" gewesen. Dennis dürfte es kaum anders ergehen, sagt sie.

"Dieses Gezerre zwischen den leiblichen Eltern und den Pflegeeltern - sieht eigentlich irgendjemand der Beteiligten, was sie dem Kind damit antun?" Wichtig sei, dass man "Kindern wie Dennis zuhört und dass sie kinderpsychologisch betreut werden".

Fachlichen Beistand hätte sich damals auch Marlies Sander gewünscht. Ihre erste Pflegestelle: ein Desaster. Fünf Pflegekinder, ein Adoptivkind und ein leibliches. Auch die Pflegeeltern waren alkoholkrank. Immerhin blieben sie und ihre zweitälteste Schwester zusammen. Von ihr erhielt sie jene Liebe und Geborgenheit, nach der sie sich sehnte. Wenn sie jedoch mit ihrer Pflegemutter kuscheln wollte, sei sie häufig zurückgestoßen worden mit den Worten: "Du bist nicht mein Kind."

Drei Jahre später, nachdem das Jugendamt von der Alkoholsucht der Pflegeeltern erfahren hatte, kam sie in die nächste Pflegefamilie - diesmal ohne ihre Schwester. Wieder wurde Marlies Sander enttäuscht. "Es war der reine Psychoterror, ständig gab es wegen Nichtigkeiten Streit." Ihr Körper habe auf den Stress - ähnlich wie Dennis - mit massiven Bauchschmerzen reagiert. Später entdeckte sie, dass ihre Pflegemutter Antidepressiva nahm. "In so eine Familie gehört doch kein Kind rein", sagt sie. "Da muss doch das Jugendamt vorher genau hingucken."

Erst als sie mit 13 Jahren in ihre dritte Familie kam, habe sie sich geborgen und geliebt gefühlt.

Als Pflegekind habe sie gelernt, sich "extrem anzupassen", noch immer wolle sie es jedem recht machen. Sie leide zudem unter schweren Verlustängsten. Von Dingen - egal, was es ist - könne sie sich nur schwer trennen. "Ich halte buchstäblich alles fest."

Marlies Sander hat eine Tochter und einen Ehemann. Ein liebevolles Zuhause, das sie schützt. Zu ihrer leiblichen Mutter - der Vater ist gestorben - hat sie vor 18 Jahren den Kontakt abgebrochen, inzwischen schreiben sie sich wieder Briefe. "Meine Mutter hat mich stets im Stich gelassen", sagt sie.

Die sie geboren hat, nennt sie nicht Mama. So nennt sie die Frau, die auf dem Papier ihre Pflegemutter ist.