Im Reiherstiegviertel leben 1700 Menschen aus mehr als 30 Nationen. Hier ist ein Modellprojekt für interkulturelles Wohnen entstanden.

Hamburg. Im Süden der Elbe ist das Leben nicht mehr dasselbe, singt der Hamburger Hip-Hopper Jan Delay. Und das stimmt: In Wilhelmsburg, auf der Veddel und Teilen von Harburg soll mit der Bauausstellung IBA und der Internationalen Gartenausstellung vieles besser werden. "Im Süden Hamburgs entsteht das innovativste Quartier Europas", ist IBA-Chef Uli Hellweg überzeugt.

Das Weltquartier im südlichen Reiherstiegviertel verdient dabei besondere Beachtung. Hier wohnen in 750 Wohnungen rund 1700 Menschen aus fast 30 Herkunftsländern. Es ist damit ein Modellprojekt für interkulturelles Wohnen. Zugleich wird für 78 Millionen Euro die alte Arbeitersiedlung aus den 1930er-Jahren zwischen Veringstraße und Weimarer Straße in ein modernes und klimafreundliches Wohnviertel verwandelt. 271 Wohnungen werden abgerissen, 278 im Passivhausstandard neu errichtet, die anderen werden umgebaut, modernisiert und energetisch saniert. An den hellen Fassaden und den neuen Balkonen an der Weimarer Straße lässt sich bereits erkennen, dass die Renovierung an den Saga GWG-Häusern abgeschlossen ist.

Während der Sanierungsarbeiten wurden die Mieter umgesiedelt

Hier wohnt im Erdgeschoss der Nummer 100a Karin Krüger, und das bereits seit 56 Jahren - seitdem sie mit Eltern und Geschwistern aus der Tschechoslowakei nach Hamburg gekommen ist. Eine Unterbrechung gab es allerdings zwischendurch: Während der zweijährigen Bauzeit wurde die Rentnerin wie alle Mieter der 750 Wohnungen in eine nahe gelegene Ersatzwohnung umgesiedelt. "Die Saga hat alles bezahlt, beim Packen geholfen und sogar die Kosten für die Sperrmüllabholung getragen", sagt Karin Krüger.

Inzwischen stehen alle Möbel wieder an ihrem Platz, und die Rentnerin genießt ihre alte Wohnung, in der fast alles neu ist: Rohre, Leitungen, Fenster, Dach und Heizungsanlage, Wärme- und Schalldämmung. "Der Grundriss wurde leicht verändert, Bad und Toilette wurden zusammengelegt, alles ist nun schön hell gestrichen", sagt Karin Krüger.

Unabhängig davon gefallen der Seniorin das "Durcheinander der Nationen, die Lebendigkeit und die vielen Kinder" im Viertel. Der neunjährige Zeeshan Butt, der mit seiner Familie an der Weimarer Straße 100e und damit in direkter Nachbarschaft zu ihr wohnt, hat sie zu seiner Ersatz-Oma erkoren und hilft häufig beim Abwaschen und Wäscheaufhängen. "Gegenseitige Unterstützung ist hier normal", sagt die alte Dame - und auch, dass man zusammen Tee trinkt und gelegentlich gemeinsam kocht.

Dass die Bewohner Teil eines Vorzeigeprojekts sind, wird vielen langsam klar. Nicht allen gefällt das. Zeeshan und sein Bruder Farouq, 14, sind aber stolz darauf, "dass sich fremde Leute für unsere Häuser und Gärten interessieren." Sie selbst begeistern sich für die neuen Sportangebote wie Kletterhalle, Skatepark und Schwimmbad. Ihre Eltern Kausar, 40, und Mohammed Azam, 45, die vor 16 Jahren aus Pakistan nach Hamburg gekommen sind, freuen sich vor allem über die Verbesserung ihrer Wohnsituation. Ihre Wohnung hat jetzt vier statt zweieinhalb Zimmer. "Endlich genug Platz für vier Kinder", sagt Kausar Butt. Der für eine Familie ideale Zuschnitt mit kleinen Schlafzimmern, einem großen Wohnraum und einer Küche mit Essplatz ist Ergebnis einer interkulturellen Planungswerkstatt, in der die Bewohner ihre Wohnwünsche äußerten. Die Ergebnisse flossen in den städtebaulichen Wettbewerb zum Umbau der Siedlung ein. Dabei wurde auch der Wunsch nach Balkonen mit Zugang zu ein wenig Grün geäußert.

Und so hat auch Familie Butt einen solchen Zugang zum eigenen kleinen Gartenstück erhalten. Dort hat Mutter Kausar Zucchini, Tomaten, Radieschen und Kartoffeln für den Eigenbedarf gepflanzt. Die Miete ist trotz der kleinen Erhöhung nach der Sanierung für Hamburger Verhältnisse günstig: Für ihre 92-Quadratmeter-Wohnung auf zwei Etagen zahlt die Familie eine Warmmiete von 800 Euro.

Gern gelebt haben die Butts aber schon immer hier. "Die Kinder haben Freunde aus vielen Ländern gefunden", sagt Kausar Butt. Eine bunt gemischte Fußballmannschaft komme immer zusammen. Im Haus der Jugend spielen die Kinder Tischtennis, für die kleine Kafiya, 6, gibt es einen nahe gelegenen Spielplatz. In ihre Schule, die Gesamtschule Wilhelmsburg, gehen alle gern, zumindest meistens, wie die elfjährige Aliya sagt. "Die Lehrer sind geduldig und bemühen sich, uns alle unter einen Hut zu bekommen", bestätigt Farouq, der auf jeden Fall Abitur machen und studieren will.

Zu den Neuzugängen im Quartier gehört Paula Kumana. Sie hat in einem Jugendprojekt an der Universität der Nachbarschaften in Wilhelmsburg gearbeitet und wurde darauf aufmerksam "dass da was im Stadtteil passiert". Die 31-Jährige wohnt mit ihrer kleinen Tochter Wanda und ihrem Lebensgefährten in einem Passivhaus unweit vom Reiherstieg, das soeben fertiggestellt worden ist. Ihre Wohnung misst 74 Quadratmeter und kostet 630 Euro Warmmiete. "Dass die Wohnung ideal geschnitten, modern ausgestattet und dabei günstig ist, war für uns das Wichtigste", sagt sie. "Wir sind begeistert von unserer neuen Bleibe." Ein bisschen gehe ihr aber "der Hype um die Aufwertung des Stadtteils und die Politisierung" auf die Nerven. "Lebendige Viertel gibt es einige in Hamburg, und ob man nicht an den Menschen vorbeiinvestiert, muss sich erst noch herausstellen", sagt sie.

Gleichwohl ist auch Paula Kumana fasziniert vom Umgang der Menschen im Quartier. "Hier herrscht eine andere Stimmung." Die Menschen sprächen miteinander, man könne leicht Kontakte zu Nachbarn aufbauen. "Vielleicht liegt das an den vielen Großfamilien."

Im Quartier herrscht bei vielen Menschen Angst vor Gentrifizierung

Dass "man" in Wilhelmsburg wohnen kann, hat sich herumgesprochen. "Rund um den IGS-Park entsteht für Familien eine sehr attraktive Wohngegend", sagt IBA-Chef Hellwig. Die Immobilienwirtschaft zählt Wilhelmsburg wegen der vielen Wassergrundstücke und grünen Freiflächen zu den Lagen mit Entwicklungspotenzial. Bei so vielen schönen Projekten - insgesamt werden mehr als 60 realisiert, das kleinste ist der Wiederaufbau einer historischen Backstube in einer Windmühle, das größte der Energieberg Georgswerder - geht die Angst vor Gentrifizierung um, mit in der Folge explodierenden Mieten und Wohnungspreisen.

Für das Weltquartier sei das jedoch nicht zu befürchten, sagt Saga-Chef Lutz Basse. Hier liege die Miete im zweiten Bauabschnitt bei 5,60 Euro kalt. Bei den Beständen werde die Bruttowarmmiete um durchschnittlich elf Cent von 8,29 auf 8,40 Euro steigen. "Die Preisbindung wird aber Bestand haben", verspricht Basse. Karin Krüger zahlt 474 Euro Warmmiete für die 55 Quadratmeter große Wohnung, zehn Euro mehr als vorher. "Dafür habe ich jetzt eine Einbauküche", sagt die Rentnerin. Und einen neu angesetzten großen Balkon, der wie bei den Butts mittels einer Stiege in einen kleinen Garten führt. Den kann die Seniorin gestalten, wie sie möchte.

30 Jahre Mietpreisbindung hat die Saga vereinbart, alle zwei Jahre werden pro Quadratmeter und Monat 15 Cent mehr auf die Nettokaltmiete fällig. Seit Kurzem liefert der Energiebunker in der Nähe Warmwasser und Wärme für die Heizung. Er soll ermöglichen, dass der CO2-Ausstoß auf null und der Primärenergiebedarf von 300 auf neun Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr sinken. Rundum glücklich sei sie mit allem, sagt die 76-Jährige. Sie kann nicht verstehen, dass einige Mieter wegen der Modernisierung aus dem Weltquartier weggezogen sind. Aber sie hofft auch, dass das Miteinander im Zuge der Aufwertung des Viertels nicht verloren geht. "Wilhelmsburg soll unsere Insel bleiben", sagt sie.