Jimmy Wales hat mit Wikipedia eine freie Wissensquelle für alle Menschen geschaffen. Im Interview erklärt er Chancen und Probleme.

Hamburg. Er kommt lautlos. Mit zwei Elektrofahrzeugen des Typs Tesla, gesponsert von der Initiative Columbus Challenge, fahren Jimmy Wales und seine Begleiter am gestrigen Vormittag bei der Axel Springer AG vor. Wales besucht die Abendblatt-Redaktion, bevor er beim Deutschen Trendtag mit dem Millennium Vision Award ausgezeichnet wird. Graues Jackett, offenes blaues Hemd, schwarze Hose und ein wacher Blick, der an den Schauspieler Kevin Costner erinnert.

Der Mann macht kein Aufheben um sich, dabei ist er einer der einflussreichsten Gestalter des Internets. Zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts baute Wales mit seinem Partner Larry Sanger die offene Enzyklopädie Wikipedia auf. Die Idee war bestechend: Freiwillige Autoren in aller Welt schreiben ihr Wissen in Fachbeiträgen für Wikipedia auf. Sie aktualisieren, überprüfen, redigieren ihre Texte in einem selbst organisierten, dezentralen System. Es herrscht das Prinzip der Seniorität: Wer länger an Wikipedia mitarbeitet, wer mehr Beiträge schreibt oder redigiert, bekommt mehr Einfluss bei der Auswahl der Themen und bei der Bearbeitung der Texte. Ziel dieses Projektes mit seinen inzwischen Zehntausenden Autoren war nicht weniger, als das "Weltwissen" jedem Menschen zugänglich zu machen. Die englischsprachige Version von Wikipedia mit mehr als drei Millionen Einträgen ist mittlerweile die fünftwichtigste Internetseite, gemessen an der Zahl der Besucher.

Wales, 44, geboren im US-Bundesstaat Alabama, machte sein Geld als Börsenhändler in Chicago und gründete damit im Boom der New Economy Ende der 90er-Jahre eine Internetfirma. Deren Website bot unter anderem Bilder von leicht bis nicht bekleideten Damen feil, woran Wales heutzutage nicht mehr gern erinnert wird. Denn sein Suchportal Bomis spielte einiges von jenem Kapital ein, das er später in den Ausbau von Wikipedia investierte.

Wikipedia gehört inzwischen zur Stiftung Wikimedia und lebt ausschließlich von Spenden. Zudem betreibt Wales kommerzielle Internetportale mit dem Unternehmen Wikia.

Anders als Apple-Chef Steve Jobs oder Facebook-Gründer Mark Zuckerberg wurde Wales nicht zu einer Ikone des World Wide Web. Der Sohn eines Gemischtwarenhändlers und einer Lehrerin, Vater einer Tochter, sieht sich eher als eine Art Handlungsreisender und Botschafter eines großen Gemeinschaftsprojektes. Am Mittwochmorgen flog er aus den USA in Hamburg ein, schon am Abend wieder zurück. Den Verlag Axel Springer verließ er im Elektroauto so lautlos, wie er gekommen war - aber nicht, ohne bleibende Eindrücke zu hinterlassen.

Hamburger Abendblatt:

Herr Wales, was ist Wikipedia? Ein Unternehmen? Eine Bewegung? Ein Geheimbund von Experten und Besserwissern?

Jimmy Wales:

Nein, Wikipedia wurde gegründet als eine internetbasierte Enzyklopädie, die von Tausenden Freiwilligen in vielen Sprachen geschrieben wird. Andere Internetgemeinden wie etwa YouTube bestehen immer aus jenen Leuten, die gerade etwas auf die Seite laden oder es sich anschauen. Bei Wikipedia geht es darum, das Projekt stetig weiterzuentwickeln. Das macht den Unterschied.

Welche Rolle spielen Sie als Mitbegründer heutzutage bei Wikipedia?

Wales:

Ich arbeite nach wie vor sehr aktiv in der Gemeinschaft mit, vor allem in der englischsprachigen Ausgabe. Dort kümmere ich mich um Ablaufprozesse, aber auch um grundlegende Fragen wie die Ausrichtung von Wikipedia. Zudem sitze ich im Aufsichtsrat der Wikimedia-Stiftung. Natürlich verbringe ich auch viel Zeit bei Konferenzen oder bei Interviews, um die Reichweite von Wikipedia zu erhöhen.

Es heißt, dass Sie für Ihre englischsprachige Ausgabe - die wichtigste - nicht mehr genügend Autoren finden. Ist Wikipedia über den Zenit hinaus?

Wales:

Das stimmt nicht. Ein entsprechender Bericht des "Wall Street Journal" basierte auf einer wissenschaftlichen Studie, die später zurückgezogen wurde. Die Gemeinschaft des englischsprachigen Wikipedia ist seit zwei Jahren ziemlich stabil. Das ist normal, denke ich, denn wir sind schon ziemlich groß - mittlerweile ist das englische Wikipedia die fünftgrößte Internetseite überhaupt. Wir wachsen allerdings in anderen Ländern und Sprachen sehr stark, derzeit zum Beispiel in Indien und in Russland.

Wie stehen Sie in Europa und in Deutschland da?

Wales:

Sehr gut. Die deutsche Ausgabe enthält bereits mehr als eine Million Artikel, die französische wird eine Million bald erreichen. Auch in Europa gehört Wikipedia nun zu den meistbesuchten Internetseiten. Das hängt damit zusammen, dass auch hier so viele Menschen daran mitarbeiten.

Warum hat Wikipedia mehr Erfolg als ähnliche Projekte?

Wales:

Wir haben von Beginn an die Philosophie des "Internet 2.0." verfolgt - die Idee, dass eine Website interaktiv auch von ihren eigenen Nutzern gestaltet und gefüllt wird. Mit der Idee der zahlreichen Teilhabe von außen waren wir anderen weit voraus.

Die Wikipedia-Gemeinschaft wächst und entwickelt sich im Kleinen fast so wie die Gesellschaft im Großen. Es bilden sich Eliten heraus und Strukturen für die Verwaltung der Inhalte, es gibt harte Debatten um Themen und Artikel, es wird intrigiert und Politik betrieben. Wann stößt dieses System an seine Grenzen?

Wales:

Das Thema nehmen wir natürlich ernst. Bei der Entwicklung jeder Art von Gesellschaft muss man nach einer gewissen Zeit sehr bewusst eine Balance zwischen Anarchie und Polizeistaat suchen und finden. Wir wollen weder das eine noch das andere. Wir wollen, dass Menschen bei Wikipedia mitarbeiten, teilhaben, wertvolles Wissen für die Gemeinschaft einbringen. Fruchtbare Meinungsverschiedenheiten gehören dazu. Wir können andererseits nicht zulassen, dass jedermann bei Wikipedia schreibt, was ihm gefällt. Das würde jene Autoren, die hohe Qualität wollen, ziemlich schnell vertreiben. Ich mache mir über das nötige Gleichgewicht aber keine großen Sorgen.

Haben Sie als Mitbegründer Sonderrechte, wenn es darum geht, bestimmte Inhalte zu löschen? Zum Beispiel Bilder mit erotischem Inhalt?

Wales:

(schmunzelt) Das ist eine komplexe Geschichte ... Vor allem in der englischsprachigen Ausgabe habe ich eine besondere Position. Wikipedia ist eine Art konstitutionelle Monarchie ...

... und Sie sind Jimmy I ....

Wales:

... ja, vielleicht. Über die Jahre habe ich mehr und mehr eine symbolische Rolle bekommen. Ich kann natürlich auch helfen, Konflikte zu schlichten. Und wenn Entscheidungen über grundlegende Fragen getroffen werden müssen, bemühe ich mich, dass sie getroffen werden.

Worum ging es bei der Löschung von Bildern mit erotischen Inhalten?

Wales:

Da ging es um eine sehr heikle Frage und auch um schwierige Debatten in der Wikipedia-Gemeinschaft. Was erotisch ist und was bereits anzüglich oder obszön, wird in jedem Land anders beurteilt. Wikipedia ist ein globales Projekt und muss auch so gestaltet sein. Wir sind keine Plattform zur freien Verbreitung von Meinungen oder Geschmacksausprägungen. Wikipedia hat den Anspruch, ein bildendes Medium zu sein. Einige Inhalte werden immer für irgendjemanden nicht zumutbar sein. Aber wir sollten immer danach streben, geschmackvoll zu bleiben.

Eingeschränkt wird die Nutzung des Internets auch in China. Google hat sich dort deshalb vor einiger Zeit zurückgezogen. Welche Möglichkeiten hat Wikipedia im autoritär regierten, bevölkerungsreichsten Land der Erde?

Wales:

Bei Google ging es um Selbstzensur. Wir machen grundsätzlich keine Kompromisse im Hinblick auf Zensur. Deshalb waren wir in China auch drei Jahre lang verboten. Vor den Olympischen Spielen 2008 wurden dann einige Seiten freigeschaltet, darunter die britische BBC und wir. Die Lage in China ist heute besser als noch vor einiger Zeit. Wir sind in einem regelmäßigen Dialog mit den staatlichen Stellen. Wikipedia ist dort in allen Sprachen verfügbar, aber die Regierung filtert bestimmte Seiten heraus, etwa zum Thema Tibet, zum Dalai Lama, zu Falun Gong oder zu Taiwan. Wir können das nicht verhindern. Google hat in China jahrelang Selbstzensur geübt. Dafür wurden sie von vielen, auch von mir kritisiert. Nun sind sie in der gleichen Position wie wir. Sie arbeiten von außen, bestimmte Seiten sind in China gesperrt, aber sie betreiben keine Selbstzensur mehr.

Seit einiger Zeit macht Wikileaks Furore, ein Portal, das mit Wikipedia nichts zu tun hat. Dessen Betreiber veröffentlichen interne oder geheime Dokumente, von denen sie glauben, ihr Inhalt sei von allgemeiner Bedeutung - zum Beispiel Berichte der US-Armee aus Afghanistan. Was halten Sie davon?

Wales:

Ich habe da sehr gemischte Gefühle. Einerseits gibt es nichts dagegen einzuwenden, neue Wege zu schaffen, auf denen brisante und auch geheime Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die Betreiber von Wikileaks allerdings veröffentlichen ihre Dokumente ziemlich rücksichtslos, ohne die Folgen zu bedenken. Das Beispiel der Afghanistan-Dokumente zeigt ja, dass durch deren Veröffentlichung sehr schnell Menschen in Lebensgefahr gebracht werden können, nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten oder zivile Aufbauhelfer. Eine seriöse Zeitung, glaube ich, würde eine solche Veröffentlichung sehr genau abwägen und prüfen. Wenn die Wikileaks-Betreiber meinen, es gebe keinen Grund, irgendeinen Fakt nicht zu veröffentlichen, kommt mir das vor wie der naive Standpunkt eines 13-Jährigen. Ich appelliere an Wikileaks, sorgfältiger zu sein, um nicht das Leben von Menschen aufs Spiel zu setzen.