Der giftige Aronstab hat eine einzigartige und sehr aufwendige Technik des Bestäubens. Sie dauert 24 Stunden und läuft bei wohligen 40 Grad ab

Ich gehe hart auf die 70 zu. „Das ist doch kein Alter“, sagt meine Frau Anke. Ich will ihr ja gerne glauben. Aber gehören nicht zum Älterwerden die Tatsachen, dass man es nach einem Tag im Garten schon mal deutlich im Rücken hat – oder auch ein bisschen schusselig wird? Umgekehrt fallen mir plötzlich auch wieder Sachen von ganz früher ein, was ja auch ein Zeichen fürs Älterwerden sein soll.

Es passierte bei einem Besuch des Botanischen Gartens in Berlin-Dahlem, eines der ältesten und neben dem in Hamburg schönsten Deutschlands. „Die sehen aber auch hübsch aus“, zeigte Anke auf eine Pflanzengruppe, „ist das eine besonders große Sorte von Maiglöckchen?“ Die grünen, gut 40 Zentimeter hohen Blätter hatten Ähnlichkeit mit Convallaria majalis. Es war aber der Gefleckte Aronstab. Arum Maculatum ist eine ausdauernde krautige Pflanze, seit Jahrtausenden bei uns zu Hause. Sehr schön, sehr giftig, sehr geheimnisvoll. Mythenumrankt.

Weltweit gibt es an die 4000 Arten, die eines gemeinsam haben: einen Fruchtkolben, der zum Beispiel beim tropischen Titanenwurz mehrere Meter hoch werden kann. Im Volksglauben vieler Länder wird der Fruchtkolben wegen seiner Form als Phallus-Symbol angesehen, das die Potenz steigern und den Nachwuchs sichern kann. Als Salbe soll ein Extrakt Hexen zum Fliegen verholfen haben. Tees waren angeblich gut gegen Tuberkulose. Als Beigabe im Wein wurde Aronstab als Mittel gegen Melancholie verabreicht, wie früher die Volkskrankheit Depression hieß.

Bloßes Angucken macht wie beim noch giftigeren Blauen Eisenhut oder den Beeren der Eibe nicht krank, aber man sollte Kleinkinder fernhalten und als Gärtner Handschuhe tragen, wenn man mit dem Aronstab zu tun hat. Aber faszinierend ist die Pflanze allemal. Seine ungefährlichen Verwandten, die Kalla-Pflanzen, haben es sogar in unsere Wohnzimmer geschafft. Das alles erzählte ich Anke nicht, die vom Aronstab im Botanischen Garten so angetan war, dass sie mich am liebsten gleich gebeten hätte, die Pflanze als Bodendecker für halbschattige Bereiche in unserem kleinen Mühlenpark im Wendland anzusiedeln – was tatsächlich eine gute Idee wäre, am besten unter Laubbäumen. Im späteren Sommer zieht sie die Blätter ein, und nur die attraktiven Kolben mit ihren roten Beeren bleiben stehen.

„Sexfalle“, sagte ich stattdessen „kennst du die nicht aus dem Biologie-Unterricht?“ Kannte sie nicht, aber ich hatte, das ist immerhin 50 Jahre her, die Bilder des Gefleckten Aronstabs vor Augen. Ich hatte, wie manche in unserem Jahrgang, Biologie gewählt. Statt Chemie oder Physik. Der Bio-Lehrer galt nämlich als sehr beliebt. Man bekam eine Drei, wenn man nicht negativ auffiel – und vielleicht sogar eine Zwei, wenn man sich ein bisschen anstrengte. Außerdem, dachten wir, ginge es im Unterricht auch um die Fortpflanzung, rein biologisch natürlich. Sexuelle Aufklärung gab es noch nicht Anfang der 60er-Jahre im prüden Deutschland der gerade ausklingenden Adenauer-Ära. Die Schulen verließen sich auf die Eltern – und die auf die Schule.

Der Bio-Unterricht war natürlich eine einzige Enttäuschung, was das anging. Wir lernten in einer Stunde die lateinischen Namen für die inneren und äußeren Geschlechtsmerkmale von Mann und Frau und ihre medizinischen Funktionen. Sehr viel genauer wurde dagegen das Thema Fortpflanzung und Bienen behandelt. Mit Bestäuben und Befruchten.

Viel spannender aber fanden wir die Fortpflanzungsfrage beim Aronstab. Der ist nämlich eine Kessel-Gleitfallenblume, wie das botanisch heißt. Dahinter steckt ein genialischer Trick der Pflanze. Ende April/Anfang Mai, wenn die neuen Triebe bereits 20 bis 30 Zentimeter hoch sind, entwickelt die Pflanze ein tütenähnliches, meist weißes Hochblatt, das den Blütenkolben umhüllt. Der Blütenstand wird gegen Abend mit Energie aus der Wurzelknolle auf eine Temperatur von bis zu 40 Grad erhitzt. Gleichzeitig verströmen Drüsen am Boden des Blütenkolbens einen unangenehmen, stark nach Harn riechendem Duft. Der lockt Insekten an, die wie die Schmetterlingsmücke gern ihre Eier in Kot oder fauligen Abwässern ablegen. Die rutschen dann an der glatten, öligen Wand des Hochblattes ab und sind gefangen. Sie müssen so lange herumkrabbeln, bis sie die Bestäubung abgeschlossen haben, was etwa 24 Stunden dauert. Dabei haben es die Insekten mit bis zu 25 Grad mehr als draußen schön warm und schön stinkig. Dann trocknet das Öl an den Seiten des Hochblattes, ein Sperr-Ring von Borsten fällt ab, der Gestank verschwindet. Und was machen die Viecher dann? Die Insekten fliegen zum nächsten Aronstab. Es hat ihnen so gut gefallen.

Bis zum nächsten Wochenende, herzlichst Ihr Karl Günther Barth