Propst Johann Hinrich Claussen über amerikanische Pioniere, die zu Ausgestoßenen wurden

Dies ist eine alte Geschichte, die auf neue Weise zu denken gibt. Sie spielt in den Vereinigten Staaten von Amerika der 30er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Wiederholte Dürren und Sandstürme hatten weite Landstriche im Inneren verwüstet. Die Bauern mussten ihre Höfe verlassen und an der Westküste nach Obdach und Arbeit suchen. Zeitweise kamen pro Monat 50.000 Menschen nach Kalifornien – hinten auf Lastwagen oder zu Fuß, mit wenigen Habseligkeiten oder nur ihrem nackten Leben. „Okies“ nannte man sie, weil viele von ihnen aus Oklahoma stammten. Willkommen waren sie nicht.

Wenige Jahrzehnte vorher hatten sie noch als Helden der Nation gegolten, als typisch amerikanische Pioniere, die den Wilden Westen in blühende Landschaften verwandelten. Nun waren sie nichts weiter als schmutzige, armselige Flüchtlinge. Man nannte sie „ignorante und dreckige Leute“, sie sollten niemals „glauben, dass sie so gut sind wie jeder andere“. Sie seien „wandernder Müll“, lebten „wie Schweine“. Überhaupt wären sie „ein seltsames Volk“, so die verbreitete Auffassung. Ein Professor meinte sogar, sie hätten viel zu lange auf den dürren Feldern des Mittleren Westens und Südens, diesem „Freiluft-Slum“ gelebt, diesem „ewigen Hades der Armut, des Unwissens und der sozialen Verderbtheit“. Sie seien „Amerikas wertloser menschlicher Bodensatz“ und „biologisch verarmte Stämme am Rande der Menschheit“. Und ein damals sehr bekannter Journalist empfahl, alle „Okies“ zu sterilisieren.

Die „Okies“ waren schockiert. Sie hielten sich für weiße, angelsächsische, fromm-protestantische Amerikaner und galten nun als „Abschaum“. Das änderte sich erst, als Künstler aktiv wurden. John Steinbeck erzählte in seinem Roman „Die Früchte des Zorns“ ihre Geschichte. Fotografen, die von der Regierung beauftragt worden waren, schufen eindrückliche Bild-Reportagen. Nun gewannen die anderen ein Bild von dem Elend, der Schönheit und Würde dieser Menschen und sahen in ihnen wieder Mitmenschen.

Diese Geschichte, auf die ich in dem Buch „Die zerrissenen Jahre“ von Philipp Blom gestoßen bin, gibt zu denken. Zum Menschen wird der Flüchtling offenbar erst wieder, wenn man ihm ins Gesicht schaut und seine Geschichte hört.