Ein Interview mit seinem Biografen Professor Heinz Schilling

„Martin Luther – Rebell in einer Zeit des Umbruchs“, so hat der Berliner Historiker Professor Dr. Heinz Schilling seine sehr umfangreiche Luther-Biografie betitelt, die 2012 im renommierten Verlag C. H. Beck erschienen ist. Darin schildert er den Wittenberger Reformator nicht als einsamen Heroen, sondern in seiner Zeit als Akteur in einem gewaltigen Ringen um die Religion und ihre Rolle in der Welt.

Was war es in Martin Luthers 95 Thesen, die er am 31. Oktober 1517 an der Schlosskirche zu Wittenberg anschlug, das Kaiser und Papst am Beginn der Reformation so gegen den Augustinermönch aufbrachte?

Heinz Schilling:

Was die Oberen aufbrachte, war ein Finanzierungsproblem, das mit dem Ablasshandel gelöst wurde. Luther entzog einem im Frühkapitalismus modernen System der Finanzierung der Kirche, des Baus des Petersdomes, aber auch der Schuldentilgung des Mainzer Erzbischofs, den Boden. Das war ähnlich wie heute die Frage der Eurorettung. Wir werden belehrt, dass sie alternativlos sei.

Für Martin Luther war es eine Frage der Glaubwürdigkeit der Kirche?

Schilling:

Nein, für ihn war es eine Frage der Fürsorge für die Menschen. Er sah durch den Ablasshandel ihr ewiges Seelenheil in Gefahr. Er ging zu diesem Zeitpunkt noch davon aus, dass die Kirche auf seinen Einspruch hin diese falsche Praxis des Ablasshandels einstellen würde. Erst als Papst und kirchliche Hierarchie bei ihrem – wie Luther sicher war – menschenverderbenden System verharrten, sah er die Kirche als solche als verrottet an.

Lag der Weg vom wahren Evangelium zur politischen Emanzipation nahe?

Schilling:

Luther ging es um das ewige Seelenheil. Wir mögen ihn heute noch so sehr ins Soziale wenden wollen – das ist nicht der ursprüngliche Luther. Erst über Jahrhunderte hin ist aus diesem Samen der religiösen Selbstbestimmung eine Weiterentwicklung hin zur sozialen und politischen Selbstbestimmung geworden.

Was meinte Luther dann mit der „Freiheit eines Christenmenschen“?

Schilling:

Für Luther entspricht der Freiheit die „Knechtschaft“ des Christenmenschen. Die Freiheit zu Gott hin, die religiöse Selbstbestimmung, gründete für Luther im allgemeinen Priestertum der Gläubigen, das eine besondere zwischen Individuum und Gott vermittelnde Priesterkaste überflüssig machte. Mit der Freiheit unlösbar verbunden ist für den Reformator „die Knechtschaft“ des Christenmenschen seinen Mitmenschen und dem Wort Gottes gegenüber.

Warum fand der Umstürzler Luther in einigen Reichsfürsten Unterstützer?

Schilling:

Luther war gar kein Umstürzler. Als Revolutionär wurde er 1983 in der DDR gefeiert. Ich spreche in meinem Buch bewusst vom Rebellen. Luther wollte die Rückkehr zu einer staatlichen Ordnung, die die Kirche in seinem Sinne stabilisierte und das Evangelium sicherstellte. Da die kirchliche Hierarchie in seinen Augen versagt hatte, rief er die Fürsten auf, als Notbischöfe für die von ihm wiederentdeckte evangelische Lehre und in ihren Territorien für entsprechende Reformen der Kirche einzutreten. Und das taten sie.

Mit welchen Motiven?

Schilling:

Zunächst als ein Ausdruck der obrigkeitlichen Fürsorge für die Untertanen. Das ist die positive Seite. Andererseits wuchsen den Fürsten ganze Komplexe öffentlicher Aufgaben und Rechte zu, die bislang überwiegend der Kirche zustanden. So gelangten Schulen, soziale Fürsorge und Ähnliches in die Hand weltlicher Obrigkeiten.

Und was hatte ihnen Luther 1520 mitzuteilen in seiner Sendschrift „An den christlichen Adel deutscher Nation?“

Schilling:

Eben diese Aufgabe. Am 31. Oktober 1517 vertraute er noch auf die Reformbereitschaft der Kirche. Aber da Papst und Bischöfe nicht reagierten, während seine Ablassthesen wie ein Lauffeuer durch Europa liefen, suchte er Hilfe bei der einzig politisch handlungsfähigen Kraft, dem Adel und den Fürsten.

Sodass Luther auf dem Reichstag 1521 in Worms, der ihn mit der Reichsacht belegt, mit Inbrunst deklamiert: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir“?

Schilling:

Seine entscheidende Aussage ist nicht dieses von anderen im Nachhinein propagandistisch aufgemotzte markige Bekenntnis, sondern die gegenüber den kirchlichen und weltlichen Oberen vorgetragene Feststellung, dass er nicht widerrufen könne, weil sein „Gewissen im Worte Gottes gefangen“ sei. Darin ist seine ganze Freiheit begründet, auch bis zum Tode festzuhalten an seinen biblischen Erkenntnissen. Diese Gebundenheit an das Wort Gottes ist bis heute Luthers unbequemes Erbe.

Im 19. Jahrhundert schossen die Lutherdenkmäler überall wie die Pilze aus dem Boden. Wie konnte Martin Luther zu einem deutschen Nationalhelden aufsteigen?

Schilling:

Indem man ihn immer wieder instrumentalisiert und politisch ausgenutzt hat, besonders im 19. Jahrhundert die Hohenzollern mit ihrer Ideologie von „Thron und Altar“. Darin kam allerdings eher die ganz und gar nicht lutherische Staatskirchentradition des Reformiertentums zum Tragen, zu dem die Hohenzollern ja im 17. Jahrhundert übergetreten waren.

Ist der Protestantismus in Deutschland heutzutage über solche Versuchungen hinweg?

Schilling:

Hinweg ist der deutsche Protestantismus über eine nationale Inanspruchnahme Luthers, man wird ihn nicht mehr als nationalen Helden wie bei den Reformationsjubiläen 1817 oder 1917 feiern. Nicht gefeit erscheint man mir aber, Luther in einem anderen, unserem heutigen Zeitgeist zu instrumentalisieren und für unsere Eventgesellschaft zu banalisieren.