Trotz drohenden Minusrekordes und Spott aus ganz Europa glaubt HSV-Coach Zinnbauer nicht an ein Mentalproblem

Heinz Knüwe ahnte, dass es am Tag nach der 0:1-Niederlage des HSV in Gladbach auch bei ihm ein wenig rummelig werden könnte. „Als der Kommentator am Mittwochabend meinen Torrekord im Fernsehen ansprach, da wusste ich, dass am nächsten Tag das Telefon nicht mehr stillstehen würde“, sagt Knüwe, der Recht behalten sollte. So musste der frühere Mittelfeldspieler und heutige Landwirt am Donnerstag immer wieder berichten, wie das 1979 war, als er nach fünf torlosen Partien in Folge den VfL Bochum am sechsten Spieltag mit seinem Treffer in der 25. Minute gegen Borussia Dortmund erlöste. Ein Pass von Ralf Blau in den Strafraum, ein paar Schritte und ein Schuss aus rund 16 Metern. „So war das damals“, sagt Knüwe. „Das Tor war natürlich ein echter Brustlöser für uns, eine große Erleichterung.“

Ziemlich genau 35 Jahre später hofft der HSV bislang vergeblich auf diesen Brustlöser. Von Albanien bis Zypern – als einzige Erstligamannschaft in ganz Europa ist der HSV noch immer ohne Saisontreffer. Seit 450 Minuten warten die Hamburger nun schon auf ein Tor. Und sollte dieses Kunststück auch am Sonntag bis um 17.55 Uhr gegen Frankfurt nicht gelingen, dann hätte das Schlusslicht der Liga den Bochumer Uralt-Negativrekord tatsächlich gebrochen. „Erst wenn das Ding endlich drin ist, ist unser Fluch überstanden“, sagt Dennis Diekmeier, im HSV-Team so eine Art Torfluch-Experte. In 119 Bundesligaspielen gelang dem frühen Stürmer noch kein einziges Tor.

„Uns fehlt momentan die Überzeugung, dieser unbedingte Wille“, sagt Tolgay Arslan, der weniger an ein Fuß- als eher an ein Kopfproblem glaubt: „Wir brauchen jetzt unbedingt mal ein Tor. Das steckt ja schon in unseren Köpfen drin. Es ist eine Kopfsache.“ Genauso sieht es auch Flügelflitzer Zoltan Stieber, der zumindest froh darüber ist, dass bis zum nächsten Spiel gegen Frankfurt gar nicht so viel Zeit zum Nachdenken ist: „Wir müssen jetzt schnell die Köpfe frei bekommen.“

Der Blick auf die Tabelle bereitet aus Hamburger Sicht derzeit tatsächlich ernsthafte Kopfschmerzen: 18. Platz, magere zwei Pünktchen und eben null Tore. Von einem Kopfproblem will Neu-Trainer Josef „Joe“ Zinnbauer trotzdem nichts wissen. „Wir spielen Fußball, da können wir nicht immer davon sprechen, dass es ein Kopfproblem ist“, sagt der Fußballlehrer, der von Mentalcoach Olaf Kortmann verbale Unterstützung erhält. „Man kann und sollte nicht allgemein davon sprechen, dass das Team ein Kopfproblem hat. Im Gegenteil: Trainer Joe Zinnbauer sollte in der Mannschaftssitzung vermeiden, die Torlosigkeit zu einem mentalen Problem zu machen“, sagt der Sportpsychologe, und weiter: „Zinnbauer sollte die positiven Dinge seit dem Trainerwechsel betonen, damit die Mannschaft Vertrauen bekommt.“

Angesichts der rekordverdächtigen Torarmut müsse Zinnbauer aus Kortmanns Sicht allerdings sehr wohl das Gespräch mit den Spielern suchen, die sich den drohenden Bundesliga-Negativrekord zu sehr zu Herzen nehmen. „Sollte Zinnbauer das Gefühl haben, dass einzelne Spieler mit dem drohenden Negativrekord ein Kopfproblem haben, dann muss er mit diesen individuell sprechen und ihnen konkrete Lösungsansätze aufzeigen“, so Kortmann. Gute Trainer würden heutzutage das Einzelcoaching immer mehr intensivieren, wobei es längst auch kein Tabu mehr ist, einen Sportpsychologen miteinzubeziehen. So mache es auch Bundestrainer Joachim Löw bei der Nationalmannschaft mit Hans-Dieter Herrmann. Zudem wäre es ein guter Ansatz, wenn der Trainer versuche, den Spielern im Training bis zum Spiel gegen Frankfurt durch Erfolgserlebnisse im Training das Gefühl zu vermitteln, dass sie es auch können. „Das nennt man Selbstwirksamkeit“, so Kortmann.

Van der Vaart will zeitnah das Training wieder aufnehmen

Besonders Stürmer Pierre-Michel Lasogga, so scheint es, könnte derzeit eine ganze Lkw-Ladung dieser Selbstwirksamkeit gebrauchen. Der mit Abstand beste Torjäger der vergangenen Spielzeit, der inklusive Relegation 14 Saisontore erzielen konnte, ist momentan in etwa so weit entfernt von seinem ersten Tor wie der Lippstädter Heinz Knüwe von einem Comeback. Nach null Torschüssen gegen die Bayern reichte es auch in Gladbach lediglich zu einer Halbchance, als Lasogga noch vor dem 0:1 am Ball vorbeirutschte. „Pierre war sehr lange verletzt, er ist noch nicht bei 100 Prozent“, sagt Offensivpartner Zoltan Stieber, „er braucht noch Zeit.“

Ein wenig Zeit – und Rafael van der Vaart. Gleich sieben von Lasoggas 14 Treffern in der vergangenen Saison legte der Niederländer auf, der noch immer Probleme mit seiner Wade hat. Zwar will van der Vaart zeitnah wieder das Training aufnehmen, gegen Frankfurt dabei sein wird der Mittelfeldregisseur allerdings kaum. Vertreter Lewis Holtby, der nach seinem Marathon gegen Bayern auch in Gladbach wieder die meisten Kilometer (12,8) abriss, will trotzdem nichts von einem Kopfproblem wissen: „Klar fehlt uns die Entschlossenheit. Aber vielleicht reden wir uns das alles viel zu sehr ein.“

Das denkt auch Heinz Knüwe, der vor 35 Jahren nur 56 Minuten nach seinem erlösenden Premierentor direkt einen zweiten Treffer folgen ließ. „Der HSV ist doch viel weiter als wir“, sagt der unverbesserliche Optimist, dessen Sohn in Hamburg bei Sportfive arbeitet, „wir hatten vor meinem Tor damals nur einen Punkt. Der HSV hat schon zwei.“