Bei einer Atlantiküberquerung mit der „Queen Mary 2“ wird auf klassische Konventionen noch Wert gelegt. Das bedeutet: Streicher zum Fünf-Uhr-Tee, Smoking beim Ball und eigene Restaurants für die Gäste in den Suiten.

Üppige Kleider rauschen beim Maskenball übers Parkett. Wo sich eben noch Offiziere unters zahlungskräftige Volk mischten, spielt nun das Orchester. Die „Gentleman Hosts“ haben viel zu tun: Ein Großteil der 347 allein reisenden Damen will tanzen. Britische Noblesse trifft US-amerikanischen Prunk. Dazwischen finden sich verstreut einige deutsche Zaungäste, zu denen wir gehören.

Vater und Tochter machen eine Reise, die auf vielen Wunschlisten steht: eine Atlantiküberquerung. Der klassische Auswanderertraum hat es uns angetan. Die Wahl des Schiffs dauert nicht lange: Als letzter Transatlantikliner bietet die „Queen Mary 2“ ihren Gästen so viel Raum wie kein vergleichbarer Kreuzfahrer. Ihre 345 Meter Länge werden nur von einer anderen Schiffsklasse um 15 Meter übertroffen, dort sind jedoch doppelt so viele Kabinen an Bord. Fünf Meter breite Flure gehen von einem beeindruckenden Atrium aus, dem Herz des Schiffes, das für den Atlantik gebaut wurde. Etwa die Hälfte des Jahres verbringt die „Queen Mary2“ im Liniendienst zwischen Southampton und New York, einige ausgewählte Fahrten finden ab Hamburg statt.

Auch nach neun Jahren regelmäßiger Besuche in der Hansestadt wird sie noch jedes Mal wie ein Stargast empfangen und verabschiedet. Am Ufer drängen sich die Menschenmassen und jubeln ihr zu. Im Schritttempo geht es, begleitet von unzähligen kleinen Booten, die Elbe hinab. In den Fenstern des Hotels Louis C. Jacob wehen weiße Bettlaken, und auch hinter Blankenese stehen noch winkende Schifffans am Ufer. Ein Teil ihres Ruhms gehört nun auch uns – ein erhabenes Gefühl.

Für die Herren schwarzer Anzug oder Smoking, für die Damen langes Kleid

An Bord geht es klassisch zu. Der Fünf-Uhr-Tee wird von weiß behandschuhten Bediensteten serviert, dazu spielt ein Streichquartett. Abends gilt eine strikte Kleiderordnung: Wenn ein Ball stattfindet, wird bereits zum Essen von den Herren ein schwarzer Anzug oder Smoking erwartet, die Dame trägt ein langes Kleid.

Und wie in alten Zeiten herrscht eine Klassentrennung: Ein Großteil der Gäste speist im geräumigen Britannia-Restaurant, zu zwei Tischzeiten. Die Suitenbewohner haben hingegen eigene Restaurants und einen größeren Zeitrahmen. Auch hier wird noch einmal fein säuberlich in zwei Preisklassen unterschieden.

Nach den üppigen Mahlzeiten tut es gut, auf dem Promenadendeck Seeluft zu inhalieren. Vier Runden entsprechen gut zwei Kilometern. Sie führen vorbei am „Todd English“, wo sich Mitreisende gegen Zuzahlung eine noch exquisitere Küche schmecken lassen, unter den orangefarbenen Rettungsbooten entlang und durch die Schotten am Bug, die bei rauem Seegang geschlossen werden. Insgeheim hoffen wir auf Wind und Wellen, doch mehr als ein sanftes Schaukeln ist auf der gesamten Überfahrt nicht zu spüren.

Nach Zwischenstopp in Southampton setzt schlagartig die Erholung ein. 3290 nautische Meilen liegen vor uns – sechs Tage nichts als Wasser. Das Meer rauscht leise in 45 Meter Tiefe. Unsere Kabine liegt auf Deck 12, höher geht es nicht. Wer die Treppen statt des Aufzugs nimmt, baut die Extrakalorien der guten Verpflegung wenigstens zum Teil wieder ab: Vom Vortrag im Planetarium auf Deck 2 geht es zur Enthüllung eines Dalí im Wintergarten auf Deck 7. Das Angebot im Tagesprogramm ist groß, die Zeit vergeht wie im Flug.

Mancher zieht den meditativen Blick aufs Meer der Gesangsdarbietung vor

Glücklicherweise bekommt man auf unserer Reise gen Westen von der Zeitverschiebung immer wieder eine Stunde geschenkt, die neue Erfahrungen im Schiffsbauch ermöglicht. Beim „Songwriting“-Workshop lerne ich Jerry und Nick kennen. Der US-Amerikaner Jerry kommt gerade von einer Europareise wieder, auf der er seine Wurzeln gesucht hat. Unser Gitarrist Nick ist von London nach New York ausgewandert. In mehreren Treffen entwickeln wir ein gemeinsames Lied, das Teil einer Vorführung wird, viele Gäste spenden Applaus.

Mein Vater zieht unterdessen den meditativen Blick aufs Meer vor, auch wenn tagelang kein Schiff zu sehen ist. Er wird beim Essen vom Nachbartisch beneidet, weil er eine Delfinschule beobachten konnte. Langsam wechselt die Farbe des Wassers, es gibt tiefblaue, türkisfarbene und grüne Stunden. Der Rhythmus eines grauen Tages ist vom Schall des Nebelhorns geprägt. In der darauffolgenden Nacht richten sich unverhältnismäßig viele Fotoapparate auf das schwarze Meer – knapp vier Kilometer unter uns liegt die versunkene „Titanic“.

Als ein Möwenschwarm auf nicht mehr allzu weit entfernte Landmassen schließen lässt, wird es Zeit, schon mal den „Ausgang“ zu suchen. Fast zehn Minuten irren wir in der Nähe umher, bis wir fündig werden, so geschlossen ist unser internationaler Mikrokosmos inzwischen. Ich möchte dennoch weiterfahren. Allein um – trotz des üppigen Tagesprogramms – die Zeit zu finden, mich bei einem guten Buch an Deck zu entspannen. Oder um die Wirkung des Meeres auf die Seele genauer zu beobachten. Denn eines steht fest: Der Atlantik bewegt etwas tief in unserem Innern. Viele Gesichter wirken bei der Ausschiffung geglättet, deutlich ruhiger als noch beim Ablegen in der sogenannten Alten Welt.

Eine Geschwindigkeit, bei der die Seele gut über den Atlantik folgen kann

Der pulsierende Rhythmus New Yorks reißt uns fort. Vom Hotelzimmer aus sehen wir die „Queen Mary 2“ auf ihre nächste Reise aufbrechen, und insgeheim wünschen wir, sie würde uns mitnehmen. Eine angenehmere Form der Atlantiküberquerung kann es nämlich nicht geben. Schließlich soll man doch nicht schneller reisen, als die Seele folgen kann.