Das Jerusalem Quartet bringt in der Elbphilharmonie-Reihe „Das Schostakowitsch Projekt“ sämtliche Streichquartette des Russen zu Gehör

Ein Herrscher besucht eine Opernaufführung. Selbst wenn er nichts tut außer dazusitzen, wird der ganze Saal jede seiner Regungen verfolgen. Jedes Luftholen ist zu deuten, und erst recht, wenn der Stuhl des Potentaten nach der Pause leer bleibt. Die beredte Abwesenheit kann nur eines bedeuten: ein vernichtendes Urteil.

Die Szene hätte sich in jeder Monarchie zutragen können – oder eben in der Sowjetunion. Dass Josef Stalin 1936 die Aufführung der Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ verließ, markierte einen Wendepunkt im Leben des Komponisten Dmitri Schostakowitsch. Einen Monat später erschien in der „Prawda“, von Stalin verordnet, der Artikel „Chaos statt Musik“. Das Vergehen: Schostakowitschs avantgardistische Tonsprache entsprach nicht dem Ideal des „Sozialistischen Realismus“, wie ihn sich die amtierenden Kulturideologen vorstellten. Die Oper, die bis dahin zwei Jahre lang erfolgreich in Moskau und Leningrad gelaufen war, verschwand von den Bühnen, Schostakowitsch wurde von seinen verängstigten Freunden gemieden und fürchtete um sein Leben. Der aufstrebende junge Komponist war ein gedemütigter Mann; er ist über diesen Schlag nie restlos hinweggekommen.

Wenn das Jerusalem Quartet sich in dieser Saison aller 15 Streichquartette Schostakowitschs annimmt, ist man versucht, darin ein klingendes Lebensbild zu erblicken. Am 9. November hat die Reihe begonnen, vier weitere Konzerte stehen an, in denen die Künstler die Stücke in chronologischer Reihenfolge spielen. Das hat nicht nur einen biografischen Sinn, die Werke bauen auch in einer Weise aufeinander auf, die sie als Zyklus erscheinen lässt. Schostakowitsch hat später geäußert, er habe ursprünglich 24 Quartette über sämtliche Tonarten schreiben wollen, so wie Bach sein „Wohltemperiertes Klavier“ angelegt hat. Dazu kam es nicht, dennoch gehört Schostakowitschs Œuvre zum Bedeutendsten, was in der Gattung Streichquartett im 20. Jahrhundert geschaffen wurde, gleich einer späten Antwort auf Beethovens Quartette.

Es ist gewiss kein Zufall, dass das erste Quartett 1938 entstand, zwei Jahre nach dem „Prawda“-Artikel. Unter dem Eindruck der Kampagne hatte Schostakowitsch seine vierte Sinfonie zurückgezogen und stattdessen die Fünfte veröffentlicht, die er offiziell als „Antwort auf berechtigte Kritik“ bezeichnete. Was wirklich in ihm vorging, das erzählen die in einem sehr persönlichen Ton verfassten Streichquartette. Es ist einzigartig, was dieser Komponist an Stimmungen, aber auch Gedanken in wenigen Takten unterbringen kann, von den patriotischen Klängen des zweiten Streichquartetts bis hin zum achten, das er in einem Brief als Requiem für sich selbst bezeichnet hat und in dem er sein Leben in Zitaten aus dem eigenen Werk Revue passieren ließ. Dabei hat er sich von Stück zu Stück mit anderen kompositorischen Fragen befasst. Wie lässt man einen Walzer in wenigen Takten von sehnsüchtig in tiefschwarz kippen? Wann wirkt der Rhythmus eines Tanzsatzes bedrohlich statt beschwingt? Wer je das satirisch Groteske in Schostakowitschs vordergründig affirmativen Klängen als Gänsehaut auf dem eigenen Rücken gespürt hat, der wird diesen spezifischen Ton nicht mehr vergessen.

In den vier Musikern des Jerusalem Quartets hat der Zyklus die denkbar berufensten Exegeten gefunden. Gegründet 1993 an der Jerusalemer Musikhochschule, da waren die Künstler noch Teenager, hat sich die Formation mit noblem Klang und stupender Perfektion in die vordersten Reihen der Streichquartettszene gespielt. Was etwas heißen will bei dem Boom an faszinierenden, hoch qualifizierten Ensembles, die derzeit die Bühnen der Welt betreten. Die „Süddeutsche Zeitung“ bescheinigt den vier in ihrer heutigen Besetzung – dem Gründungsbratscher Amihai Grosz folgte 2011 Ori Kam nach – „mühelos klingenden Fluss“ und „hochintelligente Phrasierungskunst“. Schostakowitschs Musik nimmt einen besonderen Platz im Repertoire des Quartetts ein. Das mag auch mit der Herkunft der Musiker zusammenhängen: Drei stammen aus der früheren Sowjetunion, und der Bratscher Ori Kam hat russische Vorfahren. Im New Yorker Lincoln Center haben die Künstler den Zyklus bereits gespielt – vor ausverkauften Rängen. Die Auseinandersetzung mit der Musik erinnere sie an Begegnungen mit Freunden, Kollegen und Studenten des Komponisten, schrieben sie im Programmheft: „Diese Musik scheint ,unsere‘ Geschichte zu erzählen.“

„Das Schostakowitsch-Projekt“ 7.12., 16.1., 27.2. und 22.4., jeweils 20.00, Laeiszhalle (Kleiner Saal). Karten zu 11,- bis 39,- unter T. 35766666