Gertrud Sommerfeld bekommt ihr Wochenend-Abendblatt seit 1949 nach Amerika geschickt. Dienstags ist es da

An jedem Dienstag wartet Gertrud Sommerfeld sehnsüchtig auf den Postboten. An der Straße steht der Briefkasten, die 91-Jährige lässt ihn nicht aus den Augen. Und wenn die Zeitung aus Hamburg in die Metallbox wandert, dann ist es ein guter Tag für die Hanseatin. Denn Gertrud Sommerfeld lebt seit 1949 in den USA, und die alte Dame hat seitdem die Wochenendausgabe vom Hamburger Abendblatt abonniert.

„Das Abendblatt ist meine Verbindung zu Hamburg“, erzählt Gertrud Sommerfeld am Telefon. Seit Ende der 50er-Jahre ist Raleigh im US-Bundesstaat North Carolina ihr Zuhause. „Aber meine Heimat ist und bleibt Hamburg.“ Frau Sommerfeld hat auch immer noch einen deutschen Pass. Und wenn sie spricht, dann ist ihre norddeutsche Herkunft unverkennbar und nicht zu überhören. Sie sagt „Früh-s-tück“ mit betontem „st“ und „Hamburch“, als wenn sich ihre Geburtsstadt am Ende mit „ch“ schriebe.

Ihre Kindheit und Jugend hat die Leserin in St. Georg verbracht. „Wir haben damals in der Alster gebadet, sind gesegelt und gerudert“, erinnert sich Gertrud Sommerfeld. An der Alster 34 war ihr letztes Zuhause, bevor sie mit ihrem Ehemann Max und der damals acht Jahre alten Tochter Heike in die USA auswanderte. „In Amerika waren einfach die Chancen besser, sich etwas aufzubauen.“

Nördlich von New York City ließ sich die Familie nieder, die Eltern arbeiteten in der Fabrik, und alle lernten Englisch. Ihren Beruf als Anwaltsgehilfin musste Gertrud Sommerfeld allerdings aufgeben. 1957 bekam Max Sommerfeld die Chance, in North Carolina eine Firma im Bereich Raumfahrtindustrie aufzubauen. Die Familie wurde sesshaft und lebte den „American Dream“ mit Haus und großem Garten, Barbecue und Urlaub im Wohnmobil. „Aber wir dachten auch ab und zu an eine Rückkehr nach Hamburg“, sagt Gertrud Sommerfeld.

Auf jeden Fall blieb die Verbindung zur alten Heimat – dank des Abendblatts. „Meine Eltern haben mir damals das Abo mit den Wochenendausgaben zu Weihnachten geschenkt“, sagt die Leserin. „Nach dem Tod meiner Eltern habe ich es beibehalten.“ Kamen früher die Zeitungen mit großer Verspätung und viele Exemplare auf einmal, so hält Gertrud Sommerfeld heute meist am Dienstag oder Mittwoch das Abendblatt vom vergangenen Wochenende in den Händen. „Manchmal ist die Plastikhülle aufgerissen und wieder verklebt, vielleicht liest jemand bei der Post auch gern das Abendblatt.“ 31 Euro und 20 Cent lässt sich Gertrud Sommerfeld das Abo im Monat kosten.

Und diese Summe arbeitet die Hamburgerin auch ab. „Ich lese alles, was mit meiner Heimat zu tun hat: Berichte über die Elbphilharmonie oder den Hafen, das Stadtpark-Jubiläum im nächsten Jahr oder Hamburgs Natur. Da bin ich schon mal ein paar Stunden beschäftigt.“ Besonders gut gefällt ihr die Porträt-Serie „Der rote Faden“. „Das sind durchweg interessante Menschen, die etwas leisten.“

Durch das Abendblatt hat Gertrud Sommerfeld auch erfahren, dass rund um ihre letzte Hamburg-Adresse Häuser abgerissen werden sollen. „Das gefällt mir gar nicht.“ Mit dem Abendblatt ist sie aber rundum zufrieden. „Wie die Zeitung gemacht ist, so soll sie bleiben – freundlich und auch mit guten Nachrichten. Hier in den Zeitungen lese ich immer nur über Verbrechen und Katastrophen.“ Regelmäßig schneidet Gertrud Sommerfeld Abendblatt-Artikel aus und schickt sie an Tochter Heike, die im Staat New York lebt. „Sie soll auch wissen, was in ihrer Geburtsstadt los ist.“

Einmal im Jahr kommt die Hamburgerin an die Elbe und besucht Verwandte und Freunde. „Mein erster Weg führt nach Ohlsdorf an das Grab von Max.“ Da wird sie auch irgendwann beigesetzt, das hat Gertrud Sommerfeld testamentarisch verfügt. „Eigentlich hatte ich meinem Mann versprochen, nach seinem Tod 1985 nach Hamburg zurückzugehen. Aber dann wurde daraus nichts.“

Von Hamburg aus fährt Gertrud Sommerfeld gern für ein paar Tage nach Bad Bevensen zur Kur oder nach Österreich. Aber Zeit in der Heimat zu verbringen, das steht an erster Stelle. Ein Muss: Fisch essen mit ihren Freundinnen in Finkenwerder. „Da läuft mir schon beim Erzählen das Wasser im Mund zusammen.“

Nach 64 Jahren in den USA sagt die 91-Jährige immer noch von sich: „Ich bin Hamburgerin durch und durch.“ Und dazu gehört für Gertrud Sommerfeld auch das Abendblatt.