Damit geistig Behinderte wirklich Teil der Gesellschaft werden, wäre weniger Fürsorge hilfreicher

Markus Pithan ist Projektentwickler für die Eingliederungshilfe von Menschen mit psychischer und geistiger Behinderung bei der Pestalozzi-Stiftung Hamburg. Die Institution ist Mitglied bei der Diakonie und betreut fünf ambulante Wohnprojekte.

Hamburger Abendblatt:

Gerade wurde vom Bundeskabinett ein 100 Millionen Euro schwerer Aktionsplan für die Inklusion behinderter Menschen beschlossen. Was erwarten Sie sich davon?

Markus Pithan:

Der Aktionsplan ist eine gute Absichtserklärung, aber unsere Erwartungen daran sind begrenzt. Denn was fehlt, sind ganz konkrete gesetzliche Regelungen und Vorhaben, die auch einen gewissen Druck auf die Gesellschaft ausüben. Aber zumindest wird ein Prozess angestoßen. Die Diakonie konnte zwar Stellung zum Aktionsplan nehmen, aber direkten Einfluss darauf hatten wir vorher nicht.

Was bedeutet Inklusion von Behinderten konkret?

Pithan:

Es ist der utopische Gedanke, dass sich eine Gesellschaft wie bei einem Puzzle aus jedem einzelnen Mitglied entwickelt. Ihre Form entsteht aus der Eigenart jedes Einzelnen. In einer Welt, die inklusiv ist, könnten sich Rollstuhlfahrer überall barrierefrei bewegen, jeder Bahnhof hätte zum Beispiel einen Fahrstuhl. Wenn wir das auf einen Menschen mit geistiger Behinderung übertragen, der etwa nicht lesen kann, wird schnell klar: Das Gesicht unserer Gesellschaft würde sich grundlegend verändern.

Selbstbestimmtes Leben heißt für einen geistig Behinderten, dass er viele Betreuer hat und viel Aufwand für seinen Alltag betrieben wird. Lohnt sich das?

Pithan:

Natürlich lohnt sich das. Aber es ist fraglich, ob das Ausmaß der Betreuung überhaupt erforderlich und richtig ist. Viel heißt nicht immer auch gut. Wir müssen unsere Angebote den Bedürfnissen der Menschen besser anpassen. Es müsste allerdings noch viel mehr Aufwand dafür verwendet werden, auch das Umfeld sensibel zu machen, damit Menschen mit Behinderung tatsächlich Teil unserer Gesellschaft werden.

Welchen Status haben geistig Behinderte in unserer Gesellschaft? Warum leben so wenige unter uns? Man sieht sie selten alleine, häufiger in Gruppen.

Pithan:

Es findet eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderung statt. Wir leben in einer sehr leistungsorientierten Gesellschaft, wo Wert mit Leistung und Erfolg gleichgesetzt wird. Diesen Wertmaßstäben genügen Menschen mit Behinderung auf den ersten Blick nicht. Sie bekommen aber immer noch viel zu wenig Möglichkeiten, ihre eigene Leistungsfähigkeit entwickeln zu können. Wir als soziale Institutionen müssen uns natürlich auch fragen, wieweit wir daran eine Mitverantwortung tragen. Bei uns ist der Fürsorge - und Schutzgedanke ganz wichtig, das ist natürlich positiv, aber dadurch fehlt auch von unserer Seite oftmals das Zutrauen in diese Menschen. Aber klar ist dann auch: mehr Selbstbestimmung bedeutet auch mehr Lebensrisiken. Wenn man die Leute gehen lässt, dann verliert man auch ein Stück Kontrolle. Das ist eine Herausforderung, vor der wir stehen. Wir müssen umdenken.

Viele Menschen haben noch Berührungsängste mit Behinderten, wie kann man das ändern?

Pithan:

Nichtbehinderte müssen Ängste abbauen. Viele wollen mit dem Thema Behinderung nichts zu tun haben, weil es an eigene Ängste rührt. Ein wichtiger Schritt sind Wohnungen für alle mitten in den Quartieren, denn damit schafft man ein Bewusstsein, dass Menschen mit Behinderung ihr Leben sehr gut meistern. Aber der wichtigste Baustein ist die Arbeitswelt. Dort entstehen die meisten sozialen Kontakte. Wer miteinander arbeitet, lernt sich zu respektieren und baut Vorurteile ab. Auch gemeinsames Lernen der Kinder ist hilfreich. Und jeder sollte sich fragen, in was für einer Gesellschaft er leben will und ob der Kontakt mit Menschen mit Behinderung nicht auch den Blick für andere Werte als die unserer Leistungsgesellschaft öffnen kann.

Wie reagieren Behörden, Pflege- und Krankenkassen auf den Inklusionsgedanken in der Praxis. Gibt es da viele Hürden?

Pithan:

Das Thema Inklusion wird von der Behörde gerne gesehen und mitgetragen. Wir müssen allerdings aufmerksam sein, dass das Thema nicht als Instrument zur Kostensenkung missbraucht wird. Kompliziert wird es immer, wenn verschiedene Kostenträger aufeinander treffen. Da findet viel bürokratisches Hin- und Hergeschiebe statt. Das soll laut Aktionsplan künftig einfacher werden.

Diakonie und Behinderte - warum passt das so gut zusammen?

Pithan:

Inklusion muss sich immer an den Schwächsten orientieren. Also, wie schaffen wir eine Welt, in der auch schwer geistig behinderte Menschen beteiligt und nicht ausgeschlossen sind. Und da sehe ich die Diakonie in einer Vorreiterrolle, daran zu erinnern und zu arbeiten.