Für Eltern und ihre erwachsenen Kinder beginnt ein schwieriger Prozess, wenn Eltern immer intensivere Betreuung brauchen. Es ist eine Phase, die viel Kraft kostet - und Einfühlungsvermögen. Ein Report.

An den Tag kann sich Beate Zeidelhack noch genau erinnern. "Ich kam in die Wohnung meiner Mutter, und es roch so schrecklich. Was war hier los? 'Ich hab mir was zu essen gemacht', sagte meine Mutter. In der Küche fand ich die Verpackung von dem Lachs, das Haltbarkeitsdatum war lange abgelaufen. Ich habe sofort den Arzt angerufen."

Beate Zeidelhack stellte fest, dass ihre Mutter fast ein Jahr lang kein Geld mehr abgehoben hatte, weil sie mit dem Geldautomaten nicht zurechtkam. "Das war der Moment, wo ich beschlossen habe: Ich kann das so nicht mehr mitmachen."

Schon seit einiger Zeit waren ihr Veränderungen aufgefallen, wenn sie ihre Mutter besuchte. "Es dauert eine Weile, bis man realisiert, wie sehr jemand abbaut. Ich weiß bis heute nicht, für wen von uns beiden das schrecklicher war." Ihre Mutter sah keinen Grund, in ein Heim zu ziehen. Beate Zeidelhack, damals Vollzeit berufstätig und 58 Jahre alt, hatte das ein paar Mal vorgeschlagen, aber ihre Mutter empfand das als Einmischung. Jetzt blieb der einzigen Tochter nichts anderes übrig, als ein Heim zu suchen, alles zu regeln, den Haushalt der Mutter aufzulösen. "Und ich dachte die ganze Zeit: Was bin ich für eine schreckliche Tochter. Denn ich habe praktisch entschieden, dass sie nicht mehr allein leben kann. Ich fühlte mich nur noch elend."

Was Beate Zeidelhack beschreibt, ist tausendfache Erfahrung: Nach und nach merken erwachsene Kinder, dass ihre alten Eltern immer weniger in der Lage sind, den Alltag eigenständig zu meistern. Am Anfang sind es oft kleine Details. Warum hat sich Vater wieder nicht rasiert? Warum hat Mutter, sonst eisern auf Sauberkeit bedacht, wieder die fleckige Bluse angezogen? Es ist eben das Alter, sagt man sich. Eine Frau mit Gichtfingern muss nicht täglich Blusen waschen, und wenn Vater so selten aus dem Haus geht, was soll's. Maßstäbe verschieben sich.

Während die Kinder noch darüber grübeln, fällt es den Eltern schwer, normale Dinge überhaupt zu bewältigen. Auf den Regalen Staub zu wischen. Den verlegten Schlüssel wiederzufinden. Eine Glühbirne in die Deckenleuchte zu schrauben. Oder den Schein zu wahren. "Ich habe damals kapiert, wie viel Energie es meine Mutter kostete, zu verschleiern, dass sie nicht mehr klarkam", sagt Beate Zeidelhack. Ihre Mutter war berufstätig und immer sehr selbstständig gewesen. Die beginnende Demenz machte ihr große Angst.

"Ich verliere mich täglich und entwische mir selbst", so umschrieb der Philosoph Montaigne das Gefühl, sich mit kleinen, aber unaufhörlichen Schritten dem Ende des Lebens zu nähern. Alte Menschen spüren sehr genau, dass sie immer öfter um Hilfe bitten müssten, dass sie den Überblick verlieren.

Die Kriegs-Generationen erleben heute einen schwierigen Balanceakt. Einerseits ist die Lebenserwartung gestiegen. 1980 konnte ein 60-jähriger Mann statistisch noch 16,5 weitere Lebensjahre erwarten, eine gleichaltrige Frau noch 20,8 Jahre. Heute hat ein 60-Jähriger im Schnitt noch 20,7 Jahre vor sich, eine 60-Jährige 24,6 Jahre. Andererseits: Rund 30 Prozent der Menschen werden jenseits der 80 pflegebedürftig.

Bei den meisten beginnen schwerwiegende körperliche und geistige Beeinträchtigungen nach dem 75. Lebensjahr - dann aber oft geballt und viel zu schnell, um sich darauf einzustellen. Beispielsweise nach einem Sturz: Trotz Reha finden sie nicht wieder zur alten Beweglichkeit zurück. Oder nach einem Schlaganfall: Die alte Fingerfertigkeit kehrt nicht zurück, selbst Dosenöffnen oder Schlüsselumdrehen ist schwierig.

Das stellt ihre erwachsenen Kinder vor Probleme. Die 50- bis 60-Jährigen stehen noch im Beruf, haben eigene Kinder, die noch nicht flügge sind. In der sogenannten "Sandwich-Generation" reiben sich viele zwischen Job, Familie und Pflege auf. Die Journalistin Beate Zeidelhack ging wegen ihrer Mutter mit 58 Jahren vorzeitig in Altersteilzeit.

Frank Lurbiecki (46) kann seine demenzkranke Mutter (Jahrgang 1922) nur versorgen, weil er zurzeit arbeitslos ist. Anfang diesen Jahres stürzte sie und ist seitdem bettlägerig. Er kocht, besorgt den Haushalt, wäscht und pflegt sie rundum. "Sie hat immer alles für uns getan, man konnte sich auf sie verlassen", sagt er. "Heute ist es eben umgekehrt."

Seine Mutter sei immer für andere da gewesen, erzählt er. Seit dem Jahr 2000 baute sie ab, inzwischen kann sie sich nicht mehr ausdrücken. "Wenn ich ihr etwas erzähle, sagt sie ab zu leise 'Danke'", sagt ihr Sohn.

Er sei sehr traurig über den Verfall. Aber auch wütend über die Erfahrungen, als seine Mutter im Krankenhaus war. "Sie kann nicht mehr allein trinken, niemand dort hat ihr geholfen. Als ihr Zuckerwert dramatisch sank, habe erst ich das gesehen." Für Lurbiecki ist das eine deprimierende Aussicht "auf die Zeit, wenn man selber alt ist".

Das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern ist nicht immer so harmonisch. Manchmal haben Söhne oder Töchter aus gutem Grund nur eine lockere Verbindung zu den Eltern gehalten. Wenn klar wird, dass die Eltern Betreuung brauchen oder gar Pflege, wird plötzlich eine neue Nähe erzwungen, die gewöhnungsbedürftig ist. Vater freut sich, wenn der Sohn im Haushalt Handwerksarbeiten erledigt, aber bitte genau so, wie der Vater es gemacht hätte. Wenn die Tochter nach Feierabend zum Putzen kommt, machen Mutters Anweisungen die Sache umständlich und anstrengend. Alte Beziehungsmuster brechen wieder auf. Wenn man früher schon oft mit den Eltern aneinandergeraten ist, fühlt man sich wie in einer Zeitschleife. Es stimmt oft nicht, dass Eltern "wie Kinder" werden. Die Rolle desjenigen, der jahrelang das Leben der Familie bestimmt hat und weiter bestimmen will, legt man nicht ab wie einen alten Mantel.

Hartmut Ottiligé (60) kümmert sich täglich um seine Mutter (95). Er besorgt den Haushalt, kauft ein, putzt, fährt seine Mutter zum Arzt, Frisör, zur Fußpflege.

"Sie ist ein bisschen dement, das ist ein Prozess, der jeden Tag anders verläuft", sagt er. "Wenn sie will, ist sie lustig, schlagfertig, kommunikativ. Aber die Stimmung schwankt, es kommt immer wieder zu Reibereien. 'Wo hast du die Marmelade gekauft? Bei Penny? Die will ich nicht.' Ein Heim oder Tagespflege kommen für meine Mutter nicht infrage: 'Da sind ja nur alte Leute.'"

Ottiligé spürt, dass seine Mutter Gewohnheiten nachtrauert. "Meine Eltern waren sehr aufeinander fixiert, sind viel gereist", erzählt er. "Als mein Vater vor anderthalb Jahren an Krebs starb, war es sehr schwer für sie. Er hatte alles für sie erledigt." Entsprechend hoch seien jetzt die Erwartungen an den Sohn. "Aber ich bin nicht der Ersatz meines Vaters." Ottiligé hat zwei Töchter, die in der Ausbildung sind, seine Frau arbeitet noch.

Die Grenzen zwischen Liebe, Hilfe und Bevormundung werden subjektiv definiert. Sie sind verschwommen, müssen mühsam geklärt werden.

Als Frank Puckelwald (52) merkte, dass seine Mutter wegen ihrer Parkinson-Erkrankung und beginnender Demenz dringend Betreuung brauchte, sagte sein Vater: Alles nicht so schlimm. "Er war absolut überfordert. Aber er fühlte sich in seiner Autonomie bedroht, als ich vorschlug, sie sollten zusammen in ein Heim ziehen", sagt Puckelwald. "Altenheim bedeutete für ihn: die letzte Phase. Er wollte noch leben."

Puckelwald kennt viele solcher Fälle als Seelsorger am Rauhen Haus in Hamburg: Der agilere Teil eines Paares will unbedingt festhalten am Status quo. Aber hier war er selbst als Sohn betroffen. "Natürlich will jeder im Alter selbstbestimmt leben, solange es geht. Aber wenn das zur Selbstgefährdung führt, kann ich nicht einfach wegsehen." Es ist ein Konflikt, der zerreißt: Wenn ich für meine Eltern bin, sieht es aus, als sei ich gegen sie.

Erwachsene Kinder wünschen sich von ihren Eltern, dass sie vorausschauend und vernünftig handeln, wie Eltern es eben tun. Aber die Entscheidung, sich für den Rest des Lebens anderen anzuvertrauen, ist die schwerste von allen. Oft wird sie den Eltern aus der Hand genommen - durch Notfälle, eine rasche Verschlechterung der Gesundheit. So kam es bei Puckelwalds Mutter: Er musste sie in ein Heim bringen.

"Ich habe neulich zum ersten Mal mit meiner Mutter über das Sterben gesprochen", sagt Puckelwald. "Wir haben beide geweint, es war ein sehr berührendes, inniges Gespräch. Sie erinnerte sich daran noch nach Tagen, obwohl sie sonst nur wenig aufnimmt."

Eine professionelle Beratung hilft dem Sohn oder der Tochter, die eigenen Gefühle zu ordnen, die fast immer auch Schuldgefühle sind. Sie hilft auch, die Empfindungen der Eltern besser zu verstehen. Die Veränderung, die Einstimmung auf die letzte gemeinsame Zeit, ist für Eltern und Kinder schwer. Aber sie kann auch neue Türen öffnen und Vertrauen vertiefen. Das war und ist eine Stärke von Familien.