An die Folgen der Besetzung Polens durch Hitler vor 70 Jahren erinnert eine Sonderausstellung.

Der von SS-Leuten fingierte Überfall auf den Reichssender Gleiwitz am 31. August 1939 diente Adolf Hitler als Vorwand zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Über fünf Jahre lang sollten Besatzungsterror, Vertreibungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten andauern. Die Sonderausstellung "Vertrieben aus Warschau 1944 - die Kinderschicksale" in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme erinnert an den Jahrestag und behandelt speziell die katastrophalen Folgen nach der blutigen Niederschlagung des Warschauer Aufstands 1944.

Die von Izabella Maliszewska kuratierte, künstlerisch gestaltete Schau präsentiert im Südflügel der ehemaligen Walter-Werke Dokumente, Berichte von Zeitzeugen und bisher nicht veröffentlichtes Bildmaterial. Sie ist aus einem Forschungsprojekt des Historischen Museums Warschau in Zusammenarbeit mit dem Warschauer Staatsarchiv und der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten hervorgegangen und als Wanderausstellung konzipiert.

Den thematischen Schwerpunkt bilden die Erinnerungen der Kinder an den Exodus aus den rauchenden Trümmern von Warschau. "Soweit mein Auge reichte, sah ich eine Menschenmenge, die durch die Straße über das Pflaster hastete", erinnert sich Jadwiga Kazimierska-Litwin. Deutsche Soldaten flankierten die Gehwege an beiden Seiten und richteten drohend Maschinenpistolen auf die Flüchtenden. "Ich ging, als ob meine Beine nicht mir gehörten. Vor Angst waren sie mal weich in den Knien und mal stocksteif. Ich wollte mich umdrehen und sehen, ob diese Soldaten uns folgen und mir vielleicht in den Rücken schießen würden, aber meine Mutter ermahnte mich, unauffällig zu bleiben."

Dem jüdischen Aufstand am 19. April 1943 im Warschauer Ghetto - der Kampf um einen würdigen Tod - war am 1. August 1944 der bewaffnete Widerstand der Armia Krajowa, der polnischen Heimatarmee, gefolgt. Unter dem Befehlshaber General Tadeusz "Bór" Komorowski gelang in der Stunde "W" um 17 Uhr die Einnahme des höchsten Gebäudes der Stadt. Auf dem Dach des Prudential flatterte die weiß-rote Fahne. Aber nach den ersten Erfolgen wurde der Warschauer Aufstand von zusätzlich mobilisierten Nazi-Einheiten in 63 Tagen brutal niedergeschlagen.

Die Brigade von Oskar Dirlewanger richtete im Warschauer Bezirk Wola ein Blutbad an. Bestialische Morde an Bewohnern des Viertels Ochota beging die 29. Waffen-Grenadier-Division der SS "Rona". 18 000 Aufständische waren gefallen, mindestens 150 000 Zivilisten wurden getötet. Die Überlebenden wurden aus den Stadteilen und völlig zerstörten Häusern ins Übergangslager Prusków bei Warschau transportiert. An die Zustände dort, den unbeschreiblichen Gestank und das Gejammer erschöpfter Menschen in einer Halle erinnert sich Jacek Fedorowicz. "Alle lagen dicht nebeneinander, ich musste sehr aufpassen, um niemanden zu treten und in der Menge meine Familie nicht zu verlieren." Zwischen 6. August und 10. Oktober 1944 waren in Prusków 550 000 Warschauer und 100 000 Bewohner der Vororte interniert. Von dort verschleppte die Gestapo etwa 150 000 Polen als Zwangsarbeiter nach Deutschland und deportierte 50 000 in die Vernichtungslager.

In der Rauminszenierung der Ausstellung versuchen Marek und Maciej Mikulskis die lebensbedrohliche und menschenunwürdige Atmosphäre der Lager und des Transports wiederzugeben: Großformatige Bilder von Waggons, Gegenstände aus Zügen wie Gitter, Regale und Riegel sind zu sehen. Auch das vergessene oder im überstürzten Aufbruch zurückgelassene Spielzeug der Kinder. Eine digitale Karte veranschaulicht die Anzahl der vertriebenen Warschauer und die Orte, an die sie deportiert wurden. Dokumentarfilme bieten zusätzlich einen bestürzenden Eindruck vom systematischen Terror der Nationalsozialisten. Hitler hatte geplant, Warschau dem Erdboden gleichzumachen und eine neue Metropole zu errichten. Nach Schätzungen wurden etwa 85 Prozent der Stadt zerstört.

Aspekte der deutschen Besatzung in Polen und ihre verheerenden Folgen beleuchtet auch das Begleitprogramm der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zur polnischen Wanderausstellung. Über die "Darstellung der Warschauer Aufstände 1943/44 durch die deutschen Machthaber und die Erinnerung an die Aufstände nach 1945" spricht Dr. Lars Jockheck von der Helmut-Schmidt-Universität in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte (3.9., 19 Uhr, Raum 2/03). Ebenfalls in Kooperation mit der Forschungsstelle für Zeitgeschichte thematisieren Dr. Stephanie Zloch (Ruhr-Universität Bochum) die Frage "Aussöhnung mit den NS-Opfern?"(10.9., 19 Uhr, Raum 2/03) und Dr. Magnus Koch (Deutsches Historisches Museum) "Kolonisierung, Vernichtung und Vertreibung im besetzten Polen 1939 - 1945" (17.9., 19 Uhr, Raum 2/03).

Über das Schicksal der polnischen Zivilbevölkerung, besonders der Kinder und Jugendlichen nach dem Warschauer Aufstand 1944/45, informiert Georg Erdelbrock (Hamburg) in einem Seminar im Studienzentrum der KZ-Gedenkstätte Neuengamme mit anschließender Führung durch die Sonderausstellung (Sa 5.9., 10-17 Uhr, Anmeldung erforderlich bis 31.8., T. 040/ 428 131 515). In der Talmud-Tora-Schule veranstaltet der Freundeskreis der KZ-Gedenkstätte mit dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden ein Zeitzeugengespräch und eine Lesung mit dem Überlebenden des Gettos Schargorod in der Ukraine, Dr. Boris Zabarko: Der Historiker hat 86 Berichte Überlebender der Shoa in der Ukraine gesammelt und unter dem Titel herausgegeben: "Nur wir haben überlebt".

Was den Überlebenden aus Warschau in jungen Jahren an traumatischen Ängsten widerfahren, an schrecklichen Erlebnissen zugemutet wurde, musste ihre Seele bleibend verletzen, ihr Leben als Erwachsene prägen. In verzweifelter Ungewissheit warteten sie auf Nachrichten von ihren Angehörigen, litten mit ihnen. "Mein Vater hatte im Aufstand gekämpft, und sein Leichnam wurde nach dem Krieg unter den Trümmern gefunden", erzählt Elzbieta Dankowska-Walas. Ihre Mutter und Tanten haben ihn dann heimlich ausgegraben. "Sie erkannten ihn an einem Zigarettenetui und einem Zahn ... Es gab nur mehr einen Schädel und ein paar Knochen."

Jadwiga Kazimierska-Litwin berichtet, bis zum Kriegsende an Angstzuständen und Schlafstörungen gelitten zu haben. "Ich erinnere mich, dass ich mich am liebsten verstecken wollte und irgendwo unter dem Tisch oder hinter einem Möbelstück saß. Diese Angst bin ich bis heute nicht mehr losgeworden."

Vertrieben aus Warschau 1944 - die Kinderschicksale: (Eröffnung am 28.8. um 16 Uhr), Dauer der Ausstellung 29.8. bis 26.10., KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Südflügel der ehemaligen Walter-Werke, Jean-Dolidier-Weg 75, T. 428 13 15 00, Mo-Fr 9.30-16 Uhr, Sa/So 12-19Uhr.