Die Afghanin Rosi Kalra durfte sieben Jahre lang nicht ihre Wohnung verlassen. Einen kurzen Ausflug bezahlte sie fast mit ihrem Leben.

Freiheit - das ist noch heute für mich vor allem die Möglichkeit, das Haus verlassen zu können, wenn ich es möchte. Meine Eltern haben mir sieben Jahre lang nicht erlaubt, aus dem Haus zu gehen. Ich bin nämlich in Kandahar in Afghanistan geboren und dort habe ich mit meiner Familie die ersten zehn Jahre meines Lebens verbracht. Das waren gefährliche Kriegsjahre und deshalb mussten meine Eltern ständig das eigene Leben und das ihrer Kinder schützen: vor Bomben, vor Granaten, vor brutalen Überfällen der gefährlichen Taliban und auch vor Vergewaltigungen.

Kann sich überhaupt jemand vorstellen, wie es ist, wenn man so viele Jahre nur in einer Wohnung lebt? Es war sogar gefährlich, aus dem Fenster zu gucken, weil man nie wusste, welche Gefahr auf einen zukommt. Deshalb habe ich so gut wie nie versucht, hinauszuschauen.

Mit sechs Jahren wurde meine Einsamkeit etwas gelockert, weil ich ab und zu von einer indischen Frau Privatunterricht in Hindi, Englisch und Mathematik erhielt. Ansonsten kannte ich nur meine Familie, hatte also gar keine Freunde. Wenn meine ,,Lehrerin" mal nicht kommen konnte, habe ich mich sehr einsam gefühlt. Wenn ich mich langweilte, zeigte mir meine Mutter, wie man kocht und näht. Das hat mir mehr Spaß gemacht, als mich mit meinen Puppen zu beschäftigen, die einfach stumm im Karton lagen.

Als ich fast acht Jahre alt war, blieb meine Privatlehrerin plötzlich weg. Ich war sehr traurig, denn ich hatte sie sehr gern. Warum sie nicht mehr kam, wussten wir alle damals nicht. Vielleicht ist sie an einen Ort gezogen, der ihr etwas sicherer erschien. Tatsächlich war es inzwischen noch gefährlicher geworden! Kein Mensch traute sich mehr freiwillig auf die Straßen.

Für mich wurde es von Tag zu Tag langweiliger, sodass ich meinen Vater schließlich bedrängte, mich wenigstens ein einziges Mal aus dem Haus zu lassen. Aber er verbot mir immer wieder sehr, überhaupt nur daran zu denken.

Dennoch gelang es mir eines Tages in einem unbeaufsichtigten Moment, unsere Haustür heimlich aufzuschließen. Ich weiß es noch bis heute: Ich habe mich sehr erschrocken, als der schwere Bügel des Vorhängeschlosses plötzlich zu Seite sprang.

Die ersten Schritte vor die Tür zu machen - das war einfach ein unbeschreibliches Gefühl. Ich fühlte mich überglücklich - aber dann erschrak ich. Denn als Erstes hatte ich nur in den weiten Himmel angeschaut. Aber als ich dann zum Boden blickte, sah ich vor mir menschliche Gliedmaße liegen. Ich hörte das verzweifelte laute Schreien und Weinen von Frauen und kleinen Kindern. Zu Tode erschrocken rief ich weinend nach meinem Vater. Mir erschien es endlos lange, bis er endlich auftauchte, mich fest in seine Arme nahm und mit mir rasch ins Haus zurückrennen wollte.

Ich hatte nicht bemerkt, dass neben mir eine scharfe Handgranate lag. Mein Vater aber erkannte sofort die tödliche Gefahr und rettete mich. Denn plötzlich gab es eine gewaltige Explosion und wir beide stürzten auf den Erdboden. Wir bluteten, denn wir waren von Granatsplittern getroffen worden, glücklicherweise aber nur leicht. Einige Häuser brannten und es gab noch mehr Tote.

Ich weinte unaufhörlich und stammelte: ,,Es tut mir leid, Papa. Ich gehe nie wieder raus." Mein Vater weinte mit mir, tröstete mich und bat mich, künftig auf ihn zu hören.

Diese schrecklichen Erinnerungen bleiben wohl für immer in meinen Gedächtnis. Auch wenn ich nun schon seit vielen Jahren in Freiheit und Sicherheit bin. Was Freiheit eigentlich bedeutet, wusste ich damals nicht, aber jetzt bin ich oft glücklich.