Was westliche Hörer als Peking-Oper bezeichnen, ist nur eine von unzähligen chinesischen Musiktheaterformen

Wer den Vorzug genießt, chinesische Bekannte zu haben, wird von denen schon mal mit einem provokanten Satz konfrontiert: "Chinesen wissen mehr über Europa als Europäer über China." Da möchte man zunächst widersprechen, schließlich ist die Faszination durch die chinesische Kultur unter Europäern weit verbreitet. Doch selbst wer ein paar chinesische Klassiker im Bücherregal stehen hat, mal mühselig einige Schriftzeichen selber tuschte oder gar das Land bereiste, muss am Ende eingestehen: Über eine bloß touristische Annäherung an das Reich der Mitte kommt man nur mit viel Mühe hinaus. Dagegen hat es für viele Chinesen eine ganz andere Dringlichkeit, sich auf westliche Sprachen, Denkweisen und Traditionen einzulassen. Für Kompositionsstudenten etwa gibt es seit Jahren einen Austausch zwischen der Hamburger Musikhochschule und China; der führte schon etliche Chinesen an die Alster, aber noch nie einen Hamburger nach China.

So ist der westliche Blick auf das Reich der Mitte von Faszination ebenso bestimmt wie von unvermeidlichen Missverständnissen. Die Gastspiele der China National Peking Opera Company beim Schleswig-Holstein Musik Festival etwa waren in Rekordzeit nahezu ausverkauft. Das Geschepper der Gongs mag enervierend sein, die verstellten Stimmen der Darsteller klingen in unseren Ohren fast grotesk, doch diese Theaterkunst mit ihrer Akrobatik und den prächtigen Kostümen ist für Westler der Inbegriff des Chinesischen.

Dabei gab es im alten Reich der Mitte über 300 lokale Musiktheaterformen. Für keine von ihnen ist der Begriff "Oper" angemessen. Was wir mehr aus Verlegenheit "Peking-Oper" nennen, heißt in China "Jingju". Bei diesem "Drama der Hauptstadt" spielen Pantomime, Tanz sowie präzise codierte Zeichen eine viel größere Rolle als in jeder westlichen Oper: Sitzt einem Darsteller der Hut schief auf dem Kopf, ist er betrunken; läuft er im Kreis herum, geht er auf eine weite Reise. Die Haltung der Finger, die Neigung des Kopfes, Farbe und Schnitt der Kostüme, jedes noch so kleine Detail hat eine Bedeutung. Kaum etwas davon wissen wir zu deuten, und doch bezaubert unsdiese kaum verstandene Kunst.

Bert Brecht sah 1935 in Moskau ein Gastspiel des berühmten Jingju-Darstellers Mei Lanfang und war fasziniert. Statt Gefühle herauszuschreien, würde der chinesische Darsteller lediglich Gesten "zitieren" - so zumindest kam es Brecht vor. Und er sah in dieser scheinbar distanzierten Schauspielkunst das ideale Modell für sein episches Theater. Gerade weil Jingju Brecht fremd vorkam, wählte er es als Vorbild für seinen Verfremdungseffekt. Hätte Brecht diese Kunst jedoch in China selbst kennengelernt, wäre ihm aufgefallen, dass Mei Lanfangs Gesten ein chinesisches Publikum sehr wohl zu Tränen rührten. Auch in China gab man sich im Theater Illusionen hin und fühlte mit den Helden mit. Auch der chinesische Theaterbesucher "glotzte blöde", wie Brecht solche Formen von Einfühlung nannte - nur achtete er dabei auf andere Zeichen und Symbole.

Einer, der sich im Rahmen seiner Möglichkeiten redlich mühte, chinesische Musik kennenzulernen, war Giacomo Puccini. Mit "Madame Butterfly" hatte er 1904 bereits einen ersten Ostasien-Klassiker auf die Opernbühne gebracht. Für das China-Kolorit in "Turandot" konsultierte der Italiener dann sogar das wissenschaftliche Standardwerk "Chinese Music" von J. A. van Aalst und entlieh sich daraus einige Melodien. Darüber hinaus aber fand Puccini in der asiatischen Musik auch Vorbilder - oder besser Rechtfertigungen - für viele klangliche und rhythmische Kühnheiten. Erst die Begegnung mit der chinesischen Musik setzte, so könnte man sagen, in Puccini den Avantgardisten frei. So ist die Geschichte der Ost-West-Annäherungen auch eine Geschichte der produktiven Missverständnisse, deren Ergebnis kein Opernfan mehr missen möchte.

Bei der konzertanten Aufführung der "Turandot" in Lübeck am 20. Juli mit dem Festivalchor und der NDR Radiophilharmonie steht nun die chinesische Dirigentin Zhang Xian am Pult. Die stammt zwar aus einer Stadt an der nordkoreanischen Grenze, wird aber in der Saison 2013/14 ihr Debüt in den heiligen Hallen der italienischen Oper, an der Mailänder Scala, geben.

Zu den China-Stereotypen, denen Westler gerne anhängen und die Chinesen gerne verbreiten, zählt die Vorstellung, alles aus dem Reich der Mitte sei Tausende Jahre alt und mit tiefer philosophischer Weisheit durchtränkt. Sätze zu diesem Thema fangen meist mit den Worten "Konfuzius sagt" an. Wer in luxuriösen Cinemascope-Bildern des alten China schwelgen möchte, dem sei die multimediale "Martial Arts Trilogy" empfohlen, die der Star-Komponist Tan Dun aus seinen Filmmusiken zu "Crouching Tiger, Hidden Dragon", "Hero" und "The Banquet" zusammengestellt hat (11.8. Neumünster). Geschichten über fahrende Ritter und deren alle Gesetze der Physik außer Kraft setzende Kampfkunst sind ein altehrwürdiges Genre der chinesischen Literatur. Tans Musik zu den schwebenden Schwertkämpfern im Bambuswald war selbst der Academy of Motion Picture Arts and Sciences in Hollywood einen Oscar wert.

Turandot 20.7. Lübeck

Peking-Oper 9. und 10.8. Hamburg (wenige Restkarten)