Mornshausen/Berlin. Von Diabetes bis Organspende: Für medizinische Informationen gibt es spezielle Tätowierungen. Doch helfen sie im Notfall wirklich?

Ein kleines Dorf mitten in Deutschland, alte Fachwerkhäuser, etwa 1500 Einwohner. Im Ortskern an der Hauptstraße neben der Bushaltestelle in Mornshausen sieht man in einem Fenster ein großes schwarzes, realistisches Herz. „Blackheartink“ steht darüber.

In ihrem Tattoostudio sticht Tätowiererin Jenny „Jey“ Krämer neben dem Alltagsgeschäft Tattoos mit medizinischen Botschaften – kostenlos. Gerade hat die 27-Jährige eine Vorlage fertig gemacht, mit der sie gleich ein Motiv für ein Diabetes-Tattoo provisorisch auf den Unterarm eines Kunden kopiert.

Tattoos mit medizinisch relevanten Informationen haben ihren Ursprung im Militär. Medizinische Daten wie die Blutgruppe oder schwere Medikamentenunverträglichkeiten, die im Falle einer ärztlichen Behandlung im Einsatz von Bedeutung sein könnten, werden den Soldaten unter die Haut gestochen – üblicherweise am Unterarm.

Diabetes-Patient: Tattoo soll ihm Sicherheit geben

Dort lässt auch Olaf Bachmann sein neues Tattoo platzieren: einen blauen Kreis, darin „T2“, zusätzlich der englische Schriftzug „Diabetic“ und Blätter zur Verzierung. Der 52-jährige hat Diabetes Typ 2 – genau wie sein Vater. „Ich bin Fernfahrer, viel im Ausland unterwegs. Und sollte mir mal unterwegs etwas passieren, hat jemand schon mal einen ersten Anhaltspunkt“, beschreibt Olaf Bachmann seine Motivation für das Tattoo. Es soll ihm Sicherheit geben – gleichzeitig aber auch ein Bekenntnis zu seiner Krankheit sein.

Ein kleiner Sensor mit regelmäßig Olaf Bachmanns Zuckerwerte. Die Diabetesneigung liegt bei ihm in der Familie – auch sein Vater war bereits erkrankt.
Ein kleiner Sensor mit regelmäßig Olaf Bachmanns Zuckerwerte. Die Diabetesneigung liegt bei ihm in der Familie – auch sein Vater war bereits erkrankt. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Letzteres war der Grund, warum auch Janina Lippert-Feuring sich für ein Diabetes-Tattoo entschieden hat – und ist Jey dafür nun dankbar. „Am Anfang war mir die Krankheit unglaublich peinlich“, sagt die Typ-2-Diabetikerin. „Aber ich finde es total wichtig, dass mein Umfeld das weiß. Mein Schwager hat die Krankheit über Jahre verschwiegen und am Ende konnte ihm niemand helfen.“ Er starb wegen Unterzuckerung.

Für Janina ist das Tattoo ein wertvoller Gesprächsöffner und nicht primär für den medizinischen Notfall gedacht. „Es jetzt auf meiner Haut zu sehen, ist wie ein Befreiungsschlag“, sagt die 36-Jährige. „Ich bin wahnsinnig stolz auf mich, dass ich das jetzt zeigen kann und keine Angst mehr vor der Krankheit zu haben brauche.“

Für Janina Lippert ist das neue Diabetes-Tattoo wie ein Befreiungsschlag. Sie musste für sich lernen, mit der Krankheit umzugehen – ein Prozess.
Für Janina Lippert ist das neue Diabetes-Tattoo wie ein Befreiungsschlag. Sie musste für sich lernen, mit der Krankheit umzugehen – ein Prozess. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Tätowiererin: „Medizinische Tattoos sind für mich eine Herzensangelegenheit“

Genau aus diesem Grund sticht Tätowiererin Jey Interessierten unter anderem das sogenannte Diabetes-Tattoo. Sie arbeitet ergänzend als Betreuungsfachkraft im Altenheim, hat zuvor lange mit psychisch Kranken gearbeitet. „Ich habe bereits so viele Menschen sterben sehen“, erzählt Krämer. „Die Tattoos sind für mich eine Herzensangelegenheit, da sie womöglich im Ernstfall ein Leben retten können.“ Auf Wunsch tätowiert Jey daher auch Blutgruppen oder Allergien.

Clemens Kill, Direktor des Essener Zentrums für Notfallmedizin und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Rettungsdienst und präklinische Notfallmedizin, sieht hier keine Notwendigkeit: „Tattoos mit medizinischen Informationen mögen zwar eine gewisse militärische Tradition haben – mit dem Ziel, im Zweifel Leben zu retten“, sagt er. Dies sei mit moderner Medizin jedoch überflüssig geworden. „In der täglichen Praxis der Notfallversorgung sucht heute kein Mensch nach Tattoos“, so Kill.

Nach den Prinzipien der Notfallversorgung fange man grundsätzlich bei null an und klopfe bei der Behandlung alle notwendigen Dinge ab, erklärt Kill. Als eine der ersten Amtshandlungen werde beispielsweise der Blutzucker gemessen, auch gebe es im Notfall universell geeignete Bluttransfusionen. Und allergische Reaktionen, etwa auf bestimmte Medikamente, seien heute längst nicht mehr so lebensbedrohlich wie früher.

Im Notfall sind medizinisch relevante Daten hilfreich

Gleichzeitig räumt Kill ein: „Natürlich wäre es bei der Notfallversorgung hilfreich, genau wie überhaupt in der Medizin, wenn solide medizinisch relevante Daten, sortiert nach wichtig und unwichtig, für jeden Patienten und jede Patientin sofort verfügbar wären.“ Diese gebe es aber hoffentlich sehr bald in einer digitalen Gesundheitsakte.

Wer nicht so lange warten möchte, könne etwa an Handy oder Geldbeutel einen QR-Code für Notfälle anbringen, über den Helfende und Ärzte die Daten im Ernstfall schon heute abrufen können, rät der Notfallmediziner. „Klar könnte man sich einen entsprechenden QR-Code auch auf die Haut tätowieren“, sagt Kill mit einem Schmunzeln – „mit Blick auf Datenschutz, etwa wenn man diesen im Freibad öffentlich zeigt, ist das aber wohl eher keine so kluge Idee.“

Das sogenannten Opt.Ink-Tattoo – hier personalisiert – signalisiert die Bereitschaft zur Organspende.
Das sogenannten Opt.Ink-Tattoo – hier personalisiert – signalisiert die Bereitschaft zur Organspende. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Anders sei dies bei Tattoos wie dem sogenannten Opt.Ink, meint Kill. Dabei handelt es sich um ein Tattoo, das Bereitschaft zur Organspende symbolisiert. Und das hat laut Kill eine positive Komponente. „Die Menschen setzen sich mit dem Thema Organspende auseinander.“ Das sei extrem wichtig, denn „bedauerlicherweise haben wir in Deutschland noch immer keine Widerspruch-, sondern eine Zustimmungsregelung, was sich hoffentlich bald ändert.“

Organ-Spende: Tattoo soll auf Thema aufmerksam machen

Die Idee für das Organspende-Tattoo stammt vom Verein "Junge Helden", der sich seit 20 Jahren um Aufklärung besonders bei jungen Menschen bemüht. Entwickelt wurde das Symbol dieses Jahr. Es vereint zwei Halbkreise zu einem Ganzen. Ebenso kann es als O und D für „organ donor“ – englisch für Organspender – gelesen werden.

Nach Angaben des Vereins bieten das Motiv deutschlandweit mehr als 300 Tattoostudios kostenlos an. Allein im „Blackheartink“ wurde es bereits rund 100 Menschen gestochen, deutschlandweit sollen es etwa 3000 sein.

Einer von ihnen ist der 27-jährige Dominik Rüggeberg, der gerade seine Ausbildung zum Notfallsanitäter macht. „Das Tattoo ist für mich ein Statement“, sagt Rüggeberg. „Es wird von anderen gesehen und ruckzuck ist man im Thema und kann so hoffentlich dafür sorgen, dass sich bald noch mehr Leute mit dem Thema auseinandersetzen und einen Organspendeausweis haben.“ Diesen trägt Rüggeberg schon lange in seinem Geldbeutel – nach gut einer Viertelstunde unter der Nadel nun zusätzlich das von Jey personalisierte Zeichen auf der Haut.

Dominik Rüggeberg trägt seinen Organspende-Ausweis schon lange im Geldbeutel bei sich. Das neue Tattoo soll auch als Gesprächsöffner dienen.
Dominik Rüggeberg trägt seinen Organspende-Ausweis schon lange im Geldbeutel bei sich. Das neue Tattoo soll auch als Gesprächsöffner dienen. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Denn auch das ist wichtig zu wissen: „Ein Tattoo ersetzt natürlich formaljuristisch nicht den Organspendeausweis“, so Kill. Auch er hofft beim Opt.Ink auf den Schneeballeffekt bei der Organspende. Generell ist Kills Fazit mit Blick auf Tattoos mit medizinischen Botschaften jedoch eher ernüchternd: „Die Medizin wird sich dauerhaft nicht auf eine Kommunikation über Tattoos einlassen, weil rudimentär viel zu gefährlich und rechtlich unsicher wegen möglicher Willensänderung, nachdem diese bereits gestochen wurden.“ Als Commitment oder Botschaft sei gegen diese jedoch nichts einzuwenden.