Hamburg. Ein Implantat soll älteren Patienten mit undichter Mitralklappe helfen, für die eine Operation nicht in Frage kommt.

Zuletzt geriet sie so schnell außer Atem, dass ihr der Alltag zur Qual wurde: Ob beim Einkaufen oder nach wenigen Treppenstufen – schon bei geringen Anstrengungen blieb der 72-jährigen Hamburgerin die Luft weg. Der Grund für ihre Beschwerden: Die Mitralklappe, eine der vier Klappen des Herzens, war undicht.

Bestehend aus zwei Hautsegeln, die wie Flügeltüren funktionieren, stellt die Mitralklappe beim gesunden Menschen sicher, dass mit Sauerstoff angereichertes Blut über die linke Herzkammer zu den Organen fließt. Schließt die Klappe nicht richtig, kann Blut zurückschwappen und sich bis in die Lunge stauen.

Am 10. Mai erhielt die Seniorin am Universitären Herzzentrum Hamburg (UHZ) einen neuartigen Mitralklappen-Ersatz von der kanadischen Firma Neovasc – als erste Patientin in Deutschland. Dafür öffnete das Ärzteteam nicht den Brustkorb, sondern führte das Implantat namens Tiara mithilfe eines Katheters durch einen vier Zentimeter kleinen Schnitt zwischen zwei Rippen und setzte es dann im schlagenden Herzen ein, ohne dass eine Herz-Lungen-Maschine zum Einsatz kommen musste.

„Schon am nächsten Tag ging es der Patientin deutlich besser“, berichtet Dr. Ulrich Schäfer, Kardiologie und geschäftsführender Oberarzt am UHZ, der den ersten Eingriff mit Prof. Hendrik Treede von der Uniklinik Halle und den zweiten Eingriff mit dem Herzchirurgen Dr. Lenard Conradi vom UHZ durchführte. „Durch das neue Herzventil kann das Blut nun wieder zielgerichtet fließen“, sagt Schäfer. Inzwischen sei die Dame zu Hause und wohlauf.

Für die Heilversuche sind Genehmigungen nötig

Ebenfalls bereits entlassen worden sei eine 85 Jahre alte Hamburgerin, der sie das Implantat am 27. Mai erfolgreich eingesetzt hätten, so Schäfer. Auch diese Frau bekomme wieder mehr Luft.

Beteiligt an den Eingriffen am UHZ waren auch Fachleute aus Kanada und Israel. Noch handelt es sich um erste Heilversuche, für die das Ärzteteam eine Genehmigung beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) beantragen musste. Könnten die Ärzte die Sicherheit und Machbarkeit des Verfahrens nachweisen, wäre eine weitere Studie nötig, damit das Implantat eine CE-Zertifizierung und damit eine EU-weite Zulassung erhält.

Bei jüngeren Patienten ohne schwere Nebenerkrankungen werden defekte Mitralklappen seit Langem durch chirurgische Eingriffe repariert. Dafür öffnet ein Herzchirurg den Brustkorb und verstärkt etwa bei einer undichten Mi­tralklappe deren Halteapparat, indem er künstliche Sehnenfäden einzieht und die Hautsegel strafft. Dies geschieht jedoch nicht am schlagenden Herzen, sondern der Patient wird während dieser Operation durch eine Herz-Lungen-Maschine mit Sauerstoff versorgt.

Auf diese Weise würden bundesweit pro Jahr 5000–6000 Patienten mit Mitralklappeninsuffizienz behandelt, bis zu 250 davon am UHZ, sagt Prof. Hermann Reichenspurner, ärztlicher Leiter des UHZ. Das Verfahren sei eta­bliert; die Ergebnisse seien in den meisten Fällen gut.

Da die Menschen immer älter würden, wachse allerdings die Gruppe der Patienten mit einer Herzklappenschwäche, bei denen die herkömmliche Operation zu riskant sei, sagt Reichenspurner. So komme es durch den Einsatz der Herz-Lungen-Maschine bei älteren Patienten schneller zu gefährlichen Entzündungsreaktionen.

Ältere Patienten litten zudem häufiger unter Nebenerkrankungen, die gegen eine Operation sprächen. So sei es etwa bei der 72-jährigen Hamburgerin, die das Tiara-Implantat erhielt, wegen einer starken Verkalkung der Hauptschlagader nicht möglich gewesen, eine Herz-Lungen-Maschine einzusetzen. Denn dazu wäre es nötig gewesen, einen Schlauch in die Hauptschlagader zu schieben. Ist diese aber verkalkt, können sich Kalkteilchen von der Gefäßwand lösen, über Blutgefäße ins Gehirn wandern und dort einen Schlaganfall verursachen.

Seit 2010 bietet das UHZ auch eine Alternative für Risikopatienten mit einer undichten Mitralklappe an: Beim MitraClip-Verfahren führt ein Kardiologe eine Metallklammer über die Leistenschlagader mit einem Katheter bis zur undichten Mitralklappe und heftet die beiden Segel der Klappe mittig zusammen. Am UHZ wurde bisher bei 750 Patienten MitraClips eingesetzt; weltweit wurde der Eingriff Schäfer zufolge bei 30.000 Patienten vorgenommen.

Dabei hat sich allerdings gezeigt, dass der Clip das Problem oft nicht ganz behebt: Nur bei zehn Prozent der Patienten schließe die Mitralklappe lückenlos; bei 40 Prozent komme es zu einer leichten, bei 20 Prozent zu einer höhergradigen Undichtigkeit, sagt Ulrich Schäfer. Davon abgesehen komme der Eingriff nicht für alle Risikopatienten infrage. „Von dem Klappenersatz dagegen versprechen wir uns grundsätzlich bessere Ergebnisse.“

Eingriff könnte nur eine Stunde dauern

Die Tiara-Klappe wird zunächst zusammengefaltet in einem Katheter untergebracht und dann unter Vollnarkose durch die Herzspitze und durch die defekte Mitralklappe in den linken Vorhof geschoben. Dort entfaltet sie sich wie ein Schirm. Sodann zieht der Operateur das Implantat herunter, bis die metallverstärkte Schürze des Implantats auf der Oberseite der alten Mi­tralklappe aufsetzt. Nach unten hin in der linken Herzkammer ankert das Implantat mit Klips. So soll es weder nach oben noch nach unten wegrutschen.

Wenn der Eingriff zur Routine würde, sollte er nur etwa eine Stunde dauern, sagt Ulrich Schäfer. Zum Vergleich: Die herkömmliche Operation dauert drei bis vier Stunden.

Obgleich also im besten Fall wohl erheblich schonender für den Patienten, sind durch den Eingriff Komplikationen möglich: Die Lunge kann verletzt werden; die Herzspitze, durch die der Katheter eingeführt wird, kann einreißen; es kann zu Blutungen, Herz-Rhythmus-Störungen oder zu einem Schlaganfall kommen. Ankert die Klappe nicht richtig und blockiert den Blutfluss, muss der Patient schnell operiert werden.

Ulrich Schäfer zufolge ist die Tiara-Klappe weltweit in den vergangenen vier Jahren bisher 20 Patienten eingesetzt worden. Einer von diesen Patienten starb sieben Tage nach dem Eingriff wahrscheinlich wegen eines Kammerscheidewanddefekts, aber wohl nicht durch den Eingriff und das Implantat. Zu diesem Schluss kamen zumindest von der Firma Neovasc eingesetzte Gutachter. Bei einem zweiten Patienten wurde das Implantat während des Eingriffs falsch positioniert; daraufhin musste der Patient operiert werden. Er starb drei Tage später durch Kammerflimmern. Das Implantat habe aber funktioniert, so die Gutachter. Der Fall eines dritten verstorbenen Patienten wurde bisher noch nicht begutachtet.

Neovasc, ein Start-up mit Sitz in Vancouver, ist nicht das einzige Unternehmen, das ein Implantat für Patienten mit Mitralklappeninsuffizienz entwickelt hat. Marktforschungen zeigten, dass etwa 100 Verfahren zur Therapie der Mitralklappenschwäche in der Erprobung seien, schreiben Prof. Volker Rudolph vom Herzzentrum der Uni Köln und Prof. Georg Lutter vom Uniklinikum Schleswig-Holstein im Fachblatt „Aktuelle Kardiologie“. Die „große Motivation“ für die Entwicklung schonenderer Therapien erkläre sich damit, dass etwa die Hälfte aller betroffenen Patienten für eine OP abgelehnt werde.

Georg Lutter hat selbst ein Implantat zur Therapie der Mitralklappenschwäche entwickelt und es mit dem US-amerikanischen Start-up Tendyne verfeinert. Es unterscheidet sich von der Tiara-Klappe unter anderem dadurch, dass es mit einem Faden an der Herzspitze festgenäht wird, damit es nicht nach oben wegrutscht. Bereits Anfang 2013 wurde das Implantat erstmals einem Patienten in den USA eingesetzt; bis heute seien 37 Patienten weltweit damit versorgt worden, sagt Lutter.

Drei von diesen Patienten sind inzwischen gestorben. Ein 91-Jähriger starb 13 Tage nach dem Eingriff wohl infolge einer Blutvergiftung; zwei Patienten starben neun Monate nach dem Eingriff aus unbekannten Gründen, wobei die Klappe bei einer Kontrolle nach sechs Monaten gut funktioniert habe, sagt Lutter.

Voraussichtlich Anfang September könnte ein erster Patient in Kiel mit einer Tendyne-Klappe versorgt werden; die Ärzte um Ulrich Schäfer in Hamburg planen für Mitte August eine dritte Implantation der Tiara-Klappe.

Die Implantate sollen mindestens fünf Jahre halten

Schäfer und Lutter gehen davon aus, dass die Ersatzklappen mindestens fünf Jahre halten. Dabei beziehen sich die Ärzte allerdings auf Laborversuche der Hersteller. Nicht sagen lässt sich bisher, ob Patienten mit einer solchen Klappe länger leben würden als Patienten, die keine neue Mitralklappe erhalten – dafür sind die Fallzahlen bisher zu gering. „Es geht vor allem darum, die Lebensqualität der Patienten zu verbessern“, sagt Hermann Reichenspurner.

Der Einsatz der Tiara-Klappe dürfte erheblich teurer werden als die herkömmliche OP, weil außer dem Eingriff das Implantat zu bezahlen ist. Nur wenn ein höherer Nutzen gegenüber dem Standardverfahren festgestellt würde, müssten die Kassen das Implantat bezahlen. Darüber entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA).

Für das sogenannte Tavi-Verfahren, dem Ersatz der Aortenklappe, setzte das Gremium 2015 enge Grenzen. Obwohl eigentlich in erster Linie auch nur für ältere Risikopatienten gedacht, war die Zahl der Eingriffe über die Jahre massiv gestiegen – etliche Kliniken hatten den Eingriff auch bei jüngeren Patienten durchgeführt, für die eine Operation besser geeignet gewesen wäre.