Vom Schrei-Baby bis zum Patienten in der Geriatrie - Musiktherapie wird neben der Onkologie auch in weiteren Bereichen der Medizin eingesetzt.

Bach, Beethoven oder Beatles? Wann wird Musik als wohltuend erlebt? Welche Art beruhigt, welche bewegt und stimuliert? Sind es Klänge von Vivaldi oder lieber die Stones, Jazz oder Rockballaden? "In der Musiktherapie geht es nicht um Berieselung mit Klängen. Wir arbeiten viel mit Stille", sagt Prof. Dr. Hans-Helmut Decker-Voigt, Leiter des Instituts für Musiktherapie in Hamburg bis 2010, seitdem dort Senior-Professor. "Und aus der Stille heraus wirken dann Töne, Klänge, Worte, äußere und innere Bewegungen mehrfach." Musiktherapie könne viel bewirken, indem die Klänge Kräfte freisetzen und die Psyche beeinflussen. Sie sei dagegen jedoch nicht - wie vielfach angenommen wird - eine unschädliche Wunderarznei in Noten.

"Bereits im Mutterleib erleben wir alle Elemente der Musik wie Rhythmus, Dynamik, Klang, Melodie. Das prägt uns lebenslang", sagt Decker-Voigt. Zudem sei es im Mutterleib mit bis zu 98 Dezibel richtig laut, ohne den Schalldruck würde unser Hirn nicht wachsen. In den letzten Monaten der Schwangerschaft erlebt das Kind die Sing- und Sprechstimme der Mutter. "Später verstehen wir zwar nicht die Sprache unserer Eltern, aber die Musik darin und damit die Stimmungen, Emotionen des Sprechenden. Wir wachsen musikalisch auf. Das nutzt die entwicklungspsychologisch verstandene Musiktherapie als Ressource." Auch zur Aufdeckung und Steuerung der Selbstheilungskräfte.

"Eine Patientin, die ein Bild zu dem Krebs in ihr malt oder auf Instrumenten und mit der Stimme ihrer Empfindungswelt dem Krebs gegenüber Ausdruck gibt, wird aktiv, kann mitgestalten, transportiert Inneres nach außen. Es entsteht ein Austausch mit dem Therapeuten, künstlerisch und im Gespräch. Auch die mit der Krankheit verbundenen Ängste, Hoffnungen und Wünsche werden in der improvisierten Musik deutlich und ändern sich. "Beim Improvisieren - Im-pro-visation meint wörtlich das Unvorhergesehene - wird der Umgang mit dem Neuen geübt. Denn Leben mit Krankheit, Störung, Krise heißt: Umgang mit Neuem üben", sagt Prof. Decker-Voigt. Damit gestalte der Patient aktiv seinen Krebs und sei ihm nicht passiv ausgesetzt. "Wir haben hoffnungsarme Fälle erlebt, die medizinisch nicht erklärbar erstarkten - eine Leistung unseres Psycho-Neuro-Immunsystems."

Vor rund 50 Jahren entwickelte sich die Musiktherapie zunächst im Umgang mit behinderten Menschen sowie in Psychiatrie und Psychosomatik. Heute wird neben der Onkologie die Musik in allen Bereichen der Therapie und Medizin eingesetzt. Bei Herzinfarktpatienten, Tinnitus, Burn-out, Depression, Borderline, traumabedingten Störungen, Schlaganfall, Schmerzpatienten, Migräne, Aphasie, Autismus, Intensiv- und Palliativmedizin. Dies sind nur einige der vielen Einsatzgebiete der Musiktherapie, die zudem im Bereich Prävention und Salutogenese (Gesundheitsentwicklung) immer mehr Raum einnimmt.

Prof. Decker-Voigt forschte mehr als 22 Jahre an fünf Kliniken und hat weit mehr als 2000 Patienten behandelt. In seinen zahlreichen Büchern beschreibt der Wissenschaftler und Therapeut Fallbeispiele aus allen Bereichen des Lebens - vom Schrei-Baby bis zum Patienten in der Geriatrie.

Im Musikraum des Krankenhauses Ginsterhof in Rosengarten stehen Instrumente aus verschiedenen Ländern: kleine, große, leichte, geheimnisvolle und ganz fremdartige Klangkörper. Musiktherapie wird seit mehr als 25 Jahren in der Klinik für Psychiatrie und psychosomatische Medizin angeboten. Hier werden auch Patienten mit Traumafolge-Erkrankungen behandelt. Der Kern der Therapie in Einzel- und Gruppensitzungen ist die Improvisation. Dafür lädt Musiktherapeut Thomas Jüchter die Patienten zunächst ein, auf Tuchfühlung mit den Instrumenten zu gehen. "Ein wichtiges Thema in der Behandlung psychosomatischer Patienten ist der Verlust von Harmonie, also der Ausgewogenheit der Kräfte, die sich in körperlichen Beschwerden manifestieren. Die Aussage ,ich bin harmoniesüchtig' weist ja auf eine abhängige Problematik hin, aber auch auf eine musiktherapeutische Indikation." Vielfach sei der Verlust von Balance auf traumatische Erlebnisse zurückzuführen.

Auch das gemeinsame "Chanten", das Singen um des Singens willen, kann Harmonie erlebbar machen oder wiederherstellen. "Es gibt kein besseres und wirksameres Mittel, das psychoemotionale Belastungen auflöst, Lebensmut stärkt und Selbstheilungskräfte reaktiviert als das Singen", sagt Hirnforscher Gerald Hüther.

Ein weiteres Beispiel ist die Arbeit mit Angehörigen von hirnverletzten Patienten. "Die Angehörigen verzweifeln häufig in der verbalen Kommunikation und sind selbst therapiebedürftig", sagt Prof. Decker-Voigt, einer der bekanntesten Fachautoren mit Übersetzungen in 14 Sprachen. "Sie begreifen, dass sie durch die Musik ein neues Kommunikationssystem zu ihren erkrankten Angehörigen aufbauen können." Es sei beeindruckend, wenn da Menschen zusammen sind, die, angeleitet durch den Therapeuten, sich wieder austauschen können. Und zwar auf der für sie wichtigsten Ebene, der Gefühlsebene.

Bei allen Erfolgen sei die Musiktherapie immer individualisiert auf den einzelnen Patienten zu beziehen, betont der renommierte Therapeut. Eine immer heilende Musik gibt es ebenso wenig wie eine immer beruhigende.