Bei der Elektromyostimulation soll Reizstrom den Muskelaufbau anregen. Wer aber Muskeln will, muss dazu Kraftsport treiben.

Tübingen. In 20 Minuten denselben Effekt erzielen wie beim konventionellen 90-Minuten-Work-Out. Das klingt zu schön, um wahr zu sein. Und doch versprechen immer mehr Fitnessstudios genau das. Das Wunder vollbringen soll eine Methode namens Elektromuskel- oder Elektromyostimulation (EMS). Profisportler wie Vitali Klitschko nutzen sie, Studien der Sporthochschule Köln bestätigten ihre Wirksamkeit. Doch was verbirgt sich dahinter?

„Als Elektromyostimulation bezeichnet man die künstliche Aktivierung von Muskeln mit niedrigem Reizstrom“, erläutert Prof. Veit Wank von der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft. Dabei werden auf die anzuregenden Muskelpartien Elektroden aufgesetzt, von denen elektrische Impulse ausgehen. Diese stimulieren die Fasern und bringen den Muskel dazu, sich zusammenzuziehen. „Und zwar ohne Beteiligung des Gehirns, das den Befehl zum An- und Entspannen der Muskulatur normalerweise gibt.“

Ursprünglich kommt die Reizstromanwendung aus der Physiotherapie. Dort wird sie unter anderem zur Behandlung von Muskel- und Nervenerkrankungen oder zu Rehazwecken angewandt. „Beispielsweise, wenn jemand in Folge einer Verletzung viel Muskel verloren hat und sich schwertut, ihn auf konventionelle Weise wieder aufzubauen“, erklärt Prof. Holger Schmitt vom Wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention.

Den Eingang in Sport und Fitness fand EMS in den 1970ern. Zunächst kam sie vorwiegend als passive leistungsfördernde Methode im Profisport zum Einsatz. In den vergangenen Jahren wurde sie dann zunehmend auch unter aktivem Körpereinsatz genutzt und etablierte sich als eigene Trainingsmethode, die in den Fitnessstudios und damit im Work-Out-Plan von Normalsterblichen landete.

Das sei durch die Entwicklung neuer EMS-Systeme begünstigt worden, die für Trainingszwecke effektiver und einfacher zu handhaben sind, sagt Johannes Pommerien, EMS-Experte und Mitglied im Verband Deutscher Fitness- und Gesundheitsunternehmen. Wo anfangs wie in der Physiotherapie einzelne Elektroden auf die Haut aufgeklebt worden seien, die nur einzelne Muskelareale stimulieren, gebe es jetzt Geräte, die den ganzen Körper aktivieren. Dabei handele es sich um eine Art Funktionsanzug aus Weste, Gesäßgurt und Arm- und Beinschlaufen, in den Elektroden eingearbeitet sind. „Sie sind so platziert, dass sie 80 bis 90 Prozent der Muskulatur stimulieren.“

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Da diese Ganzkörperanzüge hohe Bewegungsfreiheit bieten, sind die Trainingsmöglichkeiten vielfältig: Sie reichen vom nahezu passiven Work-Out, bei dem der Trainierende lediglich verschiedene Haltungen einnimmt, während er unter Strom steht, bis zum Hochbelastungstraining mit Gewichten oder auf dem Laufband. „Man kann mit dem Suit auch sportartenspezifisch trainieren, sprich gezielt die Muskelareale stimulieren, die beim Golf, Segeln oder welcher Disziplin auch immer besonders beansprucht werden“, ergänzt Pommerien.

Neben persönlichem Geschmack und der sportlichen Ausrichtung entscheidet der Leistungsstand darüber, wie das Training aussieht: „Durch die intensive Muskelkontraktion, die sie bewirkt, verlangt Elektromyostimulation dem Körper schon ohne viel Bewegung einiges ab“, erklärt Pommerien. In Aktion potenzierten sich die körpereigene und die EMS-stimulierte Muskelaktivität – was das Training anstrengend und hocheffektiv mache. „20 Minuten mit leichter Bewegung sind mit einem mehrstündigen konventionellen Training vergleichbar.“

Zu den positiven Effekten, die der Stimulation zugeschrieben werden, gehören neben Muskelaufbau unter anderem mehr Beweglichkeit, Gewichtsverlust und eine Straffung von Bindegewebe und Haut. Eine Wunderwaffe? Lieber etwas differenziert betrachten, rät Schmitt: „Die Wirkung von EMS auf die Muskulatur steht außer Frage. Von den Anbietern wird aber teils zu viel versprochen.“ Bahnbrechende Trainingserfolge im Liegen etwa gehören dazu. Das sei gar nicht möglich, weil EMS körpereigene Unterstützung braucht, um richtig zu funktionieren, sagt der Mediziner.

Auch dass man mit der Reizstrommethode das qualitativ gleiche Muskelvolumen aufbauen kann wie mit normalem Krafttraining, darf bezweifelt werden. „Wenn ich willentlich ein Gewicht stemme, aktiviert das Gehirn viele Muskeln gleichzeitig. Neben dem, der die Zug- oder Druckbewegung ausführt, etwa solche, die die Bewegung koordinieren und stabilisieren. Die Aktivierung durch EMS ist eine eher lokal begrenzte“, erklärt Wank. Das bedeutet im Klartext: Wer Muskeln will, die zum Kraftsport taugen, muss Kraftsport treiben - mit EMS als Zusatzprogramm ließen sich aber durchaus gute Effekte erzielen.

Auch sonst gilt Reizstrom plus Aktion als erfolgsversprechender - Reizstrom alleine weniger. Wer will, dass die Dellen am Po verschwinden, erreicht trotz des nachweislich durchblutungsfördernden EMS-Effekts meist erst durch ein zusätzliches Fettstoffwechseltraining wirklich etwas. Und auch um abzunehmen, ist mehr gefragt als der elektrische Impuls: Der kurbelt zwar den Stoffwechsel an, und die so aktivierten Muskeln verbrauchen Energie - so richtig schmelzen die Pfunde aber nur, wenn man unter Strom auch aktiv wird.

Bei korrekter Anwendung ist das EMS-Training ungefährlich. Einige Gegenanzeigen gibt es jedoch: darunter Schwangerschaft, ein Herzschrittmacher oder offene Hautausschläge. Zertifizierte EMS-Trainer und Sportmediziner können dazu Auskunft geben.