Blanke Nerven, Warnschüsse und polnischer Poker: Mit einem wahren Gipfelkrimi verabschiedete sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Samstag von den europäischen Staats- und Regierungschefs, denen sie seit sechs Monaten vorstand.

Brüssel. Blanke Nerven, Warnschüsse und polnischer Poker: Mit einem wahren Gipfelkrimi verabschiedete sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Samstag von den europäischen Staats- und Regierungschefs, denen sie seit sechs Monaten vorstand. Dabei gelang Merkel ein echter Paukenschlag: Die widerspenstigen polnischen Zwillinge Lech und Jaroslaw Kaczynski holte sie in die Europäische Union zurück. Zugleich befreit Merkel Europa endlich aus der Starre, in die es mit dem Scheitern der Verfassung vor zwei Jahren gefallen war.

Nach dem harten Verhandlungsmarathon kam das größte Lob vom größten Gegner: Der polnische Präsident Lech Kaczynski würdigte die "ausgesprochen freundschaftliche Haltung von Kanzlerin Merkel". Die Worte passten so gar nicht zu dem, was sich in den 36 Stunden vor dem Morgengrauen abgespielt hatte. Zunächst entsetzte Jaroslaw Kaczynski die Gipfelteilnehmer mit der Forderung nach einer Aufrechnung der polnischen Kriegstoten auf das Stimmgewicht gegen Deutschland. Dann übten sich die polnischen Zwillinge in einem harten Doppelkopf-Spiel: Immer wieder nährte Lech Hoffnungen auf einen baldigen Durchbruch, immer wieder wurde diese Hoffnung von Jaroslaw enttäuscht.

Am Freitagabend riss Merkel endgültig der Geduldsfaden. Gegen 21.00 Uhr feuerte die EU-Vorsitzende einen Warnschuss in Richtung Warschau ab. Zuvor hatte der polnische Regierungschef Jaroslaw einen möglichen Kompromiss kurzerhand kassiert, den Merkel mit seinem Zwillingsbruder Lech in Brüssel in drei Sitzungen unter vier Augen ausgehandelt hatte.

Dabei pokerte Merkel mindestens ebenso hoch wie die Polen: Sie kündigte einen möglichen Gipfelbeschluss der 26 anderen EU-Staaten an, ohne auch nur eine Testabstimmung in großer Runde gemacht zu haben. Doch die Drohung wirkte: Nur so habe sie in Warschau die Bereitschaft geweckt, "noch einmal neu nachzudenken", sagte die Kanzlerin zum Schluss. Kollegen wie der französische Präsident Nicolas Sarkozy und der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker sprangen ihr bei und telefonierten ständig mit Warschau.

Der größte Verhandlungserfolg Merkels: Statt dem von den polnischen Zwillingen ausgegebenen Motto "Quadratwurzel oder Tod" heißt es nun "die Quadratwurzel ist tot", wie es aus Merkels Umfeld mit Genugtuung hieß. Die Forderung Warschaus, das Stimmgewicht durch die Wurzel aus der Bevölkerungszahl zu ermitteln, ist nun vom Tisch.

Im Ringen um ein demokratischeres Stimmgewicht in der EU musste Merkel allerdings auch eine bittere Pille schlucken. Polen erwirkte einen Aufschub des Prinzips der "doppelten Mehrheit" bis maximal 2017. Damit wird Polen für weitere zehn Jahre fast so viel Gewicht wie Deutschland haben, und das bei nur halb so großer Bevölkerung. Vor allem in den anstehenden Verhandlungen um den Zugang zu milliardenschweren Strukturfonds ab kommenden Jahr dürfte Warschau dies nutzen.

Den Bürgern bringt die Brüsseler Einigung ein weniger verkrustetes Europa. Tritt der neue EU-Reformvertrag wie geplant bis zu den Europawahlen 2009 in Kraft, können sie wegen der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen mit schnelleren Beschlüssen rechnen. Zudem erhält Europa ein erkennbares Gesicht mit dem neuen Hohen Vertreter für die Außenpolitik und dem auf zweieinhalb Jahre bestimmten EU-Präsidenten. Auch die Bürgerrechte sind nun erstmals rechtsverbindlich. Darunter zählt auch das Recht auf eine gute (EU)-Verwaltung.

So endete ein dramatischer Gipfel doch noch mit vielen erleichterten Gesichtern und Blumen für die Kanzlerin, die Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso überreichte. "Frau Bundeskanzlerin, liebe Angela", sagte der Portugiese auf Deutsch. "Im Namen Europas danke ich sehr herzlich und freue mich auf künftige Arbeit."