Berlin.

Die Zusammensetzung des diesjährigen Grippeimpfstoffes könnte weniger effektiv sein als erhofft, befürchten US-Experten. Als Indiz gilt die derzeit in Australien wütende Grippewelle. Mehr als 215.000 Fälle meldete das australische Gesundheitsministerium bis Mitte Oktober – fast vier Mal so viele wie bei der als Schweinegrippe bekannt gewordenen Pandemie 2009. 72 Menschen seien bereits gestorben. Was das genau für die nördliche Hemisphäre – also auch Europa – bedeutet, sei noch nicht abzusehen, schreiben Experten des amerikanischen Nationalen Instituts für Allergien und Infektionskrankheiten (NIH) im „New England Journal of Medicine“. Man bereite sich auf eine möglicherweise schwere Grippesaison vor.

Was ist das Problem beim
diesjährigen Impfstoff?

Jedes Jahr sammelt die Weltgesundheitsorganisation WHO weltweit Daten, um eine Vorhersage zu treffen, welche Grippeviren in der kommenden Saison zirkulieren könnten. Basierend auf dieser Vorhersage wird der Impfstoff zusammengesetzt.

In den vergangenen Jahren lag die Vorhersage auch schon öfter daneben. Eine Alternative gibt es jedoch bislang nicht, denn die Keime verändern sich laufend. Die von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlte Influenzaimpfung enthält in diesem Jahr, wie auch sonst üblich, Antigene zweier sogenannter Typ-A-Viren und eines Typ-B-Virus. Benannt sind sie jeweils nach der Stadt, in der sie erstmals identifiziert wurden. In diesem Jahr sind das H1N1 Michigan, H3N2 Hongkong und B Brisbane. „Der H1N1-Typ wurde geändert, vorher war die Variante California enthalten“, sagt Susanne Glasmacher vom Robert-Koch-Institut (RKI). Der wieder verwendete H3N2 Hongkong habe schon in der letzten Grippesaison nicht optimal gepasst. Nach Ansicht der US-Experten vom NIH könnte das auch in Australien zur aktuellen Situation beigetragen haben.

H3N2-Viren dominierten demnach, die Impfstoffwirksamkeit gegen diesen Typ habe aber nach vorläufigen Schätzungen bei nur zehn Prozent gelegen. Ob das auch in Europa und den USA der Fall sein wird, sei nicht klar. „Aufgrund eines Ausbruchs in Australien lässt sich keine Prognose treffen“, sagt auch Glasmacher.

Trotzdem impfen?
„Die Wirksamkeit des Impfstoffes ist nicht so gut, wie man es gerne hätte, aber es ist der beste Schutz, den wir haben“, sagt Glasmacher. Bei Älteren liege er zwischen 40 und 60 Prozent. Wer trotz Impfung erkranke, hätte in der Regel einen deutlich milderen Verlauf.

Für Patienten über 60 kann das entscheidend sein. Für sie empfiehlt die Ständige Impfkommission (Stiko) grundsätzlich eine Influenzaimpfung, ebenso für Bewohner von Altenheimen, Immungeschwächte und Schwangere ab dem zweiten Trimester. Bei der übrigen Bevölkerung verlaufe die Infektion in der Regel ohne schwere Komplikationen, daher wird Kindern und Erwachsenen unter 60 nicht explizit zu einer Impfung geraten. Als Ansteckungsquelle für gefährdete Personengruppen kommen sie aber dennoch infrage. So steht Pflegepersonal ebenso auf der Stiko-Liste der Impfkandidaten wie Familien, die beispielsweise mit den Großeltern in einem Haushalt leben.

Da der vollständige Schutz der Impfung erst nach zehn bis 14 Tagen einsetzt, raten die Experten dazu, sich möglichst frühzeitig impfen zu lassen. In den vergangenen Jahren setzte die Influenzawelle meist nach dem Jahreswechsel ein. Zwischen dem 1. Oktober 2016 und dem 19. Mai 2017 berichtet die Arbeitsgemeinschaft Influenza von 460.000 Krankheits- sowie 31 Todesfällen in Deutschland.

Warum gibt es eine
neue Impfempfehlung?

Ab Januar 2018 empfiehlt die Stiko erstmals einen Vierfachimpfstoff gegen Influenza. Bis zur Grippesaison 2012/2013 gab es nur Impfstoffe mit Antigenen gegen drei Virustypen. Seit 2013/14 ist in Deutschland auch ein sogenannter quadrivalenter Impfstoff erhältlich, der neben den zwei A-Typen auch gegen zwei statt nur einen B-Typen schützen soll. In diesem Jahr ist etwa neben B Brisbane noch der Typ B Phuket enthalten. Auch diese Influenza B kann viele Grippefälle verursachen. Anders als bei der Influenza A ist das jedoch nicht in jeder Saison der Fall. Deswegen wurde der Vierfachimpfstoff von der Stiko bislang nicht explizit empfohlen. Verbraucher, die ihn wollten, mussten meist selbst zahlen.

Im November hat die Stiko nun entschieden, die Empfehlung ab 2018 offiziell zu ändern, weil es „keine Hinweise auf eine verminderte Wirksamkeit“ gebe und der quadrivalente Impfstoff „einen besseren Schutz“ als die Dreifachimpfung biete. Meist übernehmen die Kassen Impfungen, die offiziell von der Stiko empfohlen werden.

Warum wirkt die Impfung nicht dauerhaft?
Influenzaviren verändern sich ständig und unvorhersehbar. Zahlreiche Forscher weltweit arbeiten an der Entwicklung eines „Universalimpfstoffes“, der die Winzlinge unabhängig von ihrer saisonalen Form angreifen kann. Zum flächendeckenden Einsatz hat es aber bislang noch keiner gebracht.

Verantwortlich dafür sind zwei Vorgänge: Antigendrift und Antigen-shift. Die Viren haben acht Segmente, jedes enthält den Code für ein Protein. Diese simple Struktur ist nicht darauf ausgelegt, Fehler beim Kopieren des Erbguts wieder auszubügeln. Bei Menschen kann so ein Kopierfehler zu schweren Behinderungen führen. Für Viren bedeutet er oft Vorteile, denn kein Immunsystem ist auf so entstandene neue Virentypen vorbereitet. Diese Kopierfehler nennen sich bei Influenzaviren Antigendrift.

Zwei Proteine spielen bei der Wandlungsfähigkeit der Influenzaviren eine besondere Rolle: Hämagglutinin und Neuraminidase, kurz H und N. Hämagglutinin ist dafür ausschlaggebend, an welche Wirtszellen sich die Viren besonders gut andocken können, beispielsweise Mensch oder Vogel. Neuraminidase hilft den neu entstandenen Viren dabei, sich wieder von der Wirtszelle zu lösen. Bekannt sind bislang 18 verschiedene H- und elf verschiedene N-Typen – die Bausteine für diese beiden Proteine können die Viren beliebig untereinander austauschen, wenn sie die gleiche Wirtszelle befallen. Dieser Antigenshift lässt regelmäßig neue Subtypen entstehen, die das Immunsystem ebenfalls unangenehm überraschen können.