Berlin.

Es ist gar nicht einfach, einem Ozean-Hai zu begegnen. Jean-Marie Ghislain legt dafür Köder im Meer aus, stundenlang wartet er neben einer Kiste mit Fisch im Wasser. Er trägt ein Kettenhemd über seinem Neoprenanzug. Wenn er Glück hat, begegnet er einem Hammerhai, einem Walhai, einer Gruppe Weißer Haie oder einem Breitnasen-Siebenkiemerhai, der ihn mit seinen nach oben gezogenen Mundwinkeln an Ernie aus der Sesamstraße erinnert.

Ghislain gilt als berühmtester „Haiflüsterer“ der Welt. Der belgische Forscher schwimmt und taucht mit Haien, er berührt sie und spielt mit ihnen. Seine Unterwasserbilder, die er auch in dem Buch „Berührende Schönheit“ veröffentlicht hat, zeigen poetische Momente zwischen Hai und Mensch. „Ich verstehe mich als Botschafter und will den Menschen erklären, dass Haie eben nicht die seelenlosen Killer des Meeres sind, wie sie in den Filmen und Medien dargestellt werden“, sagt er. Der Hai müsse dringend mehr Schutz erfahren.

Weltweit steigt die Zahl der Hai-Angriffe

Sich für Haie einzusetzen, ist nicht einfach. Der Raubfisch ist als Bösewicht stigmatisiert, eine Haifischflosse gilt als Symbol für kollektive Angst, nicht erst seitdem man sich nach dem Film „Der Weiße Hai“ kaum mehr in die Badewanne getraut hat. Naturdokumentationen zeigen den Meeressäuger meist als blutrünstigen Jäger. Die Sozialen Medien sind voll mit teils echten, teils manipulierten Bildern und Videos von Haiattacken.

Tatsächlich steigt die Zahl der Angriffe von Haien weltweit. 107 Haiattacken registrierte die Webseite Tracking Sharks im vergangenen Jahr – so viele wie nie zuvor. Bereits 2015 hatte die Plattform mit 98 Angriffen eine Rekordmarke erfasst. In diesem Jahr wurden bisher 58 Angriffe gezählt. Am meisten betroffen sind die Ostküste Floridas, die Küsten Australiens und die des südlichen Afrikas. Erst im Juni erschreckte ein eineinhalb Meter langer Blauhai mehrfach Urlauber an der Küste Mallorcas – als er in direkter Nähe zu den Badenden auftauchte. Boulevardmedien titelten: „Hai-Alarm vor Mallorca“ und „Schock-Moment am Ballermann“.

Sind Haie nun aggressiver geworden? „Nein, sind sie nicht“, sagt Forscher Ghislain. Aber: „Es gibt deutlich mehr Kontakte zwischen Mensch und Hai, immer mehr Menschen schwimmen im Meer. Viele tragen Neoprenanzüge und bleiben länger im Wasser. Sie surfen, tauchen und dringen in Haireviere vor.“ Bei dem Blauhai vor Mallorca stellte sich heraus, dass dieser die Orientierung verloren hatte – weil in seinem Maul ein Fischereihaken festsaß und schmerzte.

Die wenigsten Haiattacken verlaufen tödlich. Acht Menschen kamen 2016 ums Leben, weil sie nach einem Haibiss verbluteten. Andere Angegriffene erlitten schwere Verletzungen. Eigentlich mögen Haie gar kein Menschenfleisch. Sie greifen dann an, wenn sie den Menschen mit einer Robbe oder Riesenschildkröte verwechseln – gerade, wenn dieser schnell paddelt oder auf einem Brett steht. „Ein Hai beißt bloß einmal zu und bemerkt, dass es ihm nicht schmeckt“, sagt Ghislain. „Wir stehen definitiv nicht auf seiner Speisekarte.“

Der Mensch dagegen isst gern Hai. Begehrt sind das Fleisch, die Innereien, aber vor allem die Flossen. Nach Schätzungen der Welternährungsorganisation FAO werden jährlich 100 Millionen Haie von der Fischindustrie getötet, davon 73 Millionen durch sogenanntes Finning. Bei der Methode, die in der EU und den USA verboten ist, werden Haien erst die Flossen abgehackt, dann werden die Tiere zurück ins Meer geworfen. Sie verenden qualvoll. Andere Haie landen als Beifang in Fischereinetzen. Haifischflossensuppe gilt vor allem in Thailand, aber auch in anderen Teilen Südostasiens und Chinas als Delikatesse. Der Appetit auf Haie setzt den Arten zu. Wie die Umweltschutzorganisation WildAid in ihrem neuesten Bericht schreibt, führt er zu einem „dramatischen Rückgang“ des Bestands – bis zu 98 Prozent einiger Arten. Nach Angaben des Umweltverbands WWF stehen gut ein Viertel der Hai- und Rochenarten auf der Roten Liste der bedrohten Arten.

Europa exportiert weltweit die meisten Haie. Spanien, Portugal und Italien betreiben die größten Haifischfangflotten der Welt. Sie fangen überwiegend Mako- und Blauhaie, Arten ohne Fangbeschränkungen. „Viele EU-Fischereien haben auf Hai umgesattelt, nachdem der Markt für Fischarten wie Thunfisch und Schwertfisch eingebrochen ist“, sagt WWF-Artenexperte Roland Gramling. Heute werde doppelt so viel Fleisch von Haien und Rochen gehandelt wie in den 90er-Jahren. In Deutschland werden besonders viele Schillerlocken verspeist. Was viele nicht wissen: Diese werden aus den Bauchlappen des Dornhais hergestellt – auch der ist akut bedroht.

Wie Forscher der Universität Hamburg herausgefunden haben, sind auch in der deutschen Nord- und Ostsee neun von zehn Hai- und Rochenarten vom Aussterben bedroht. Die Hauptgründe: Fischfang und Klimawandel. Das Bundesamt für Naturschutz hat die Studie kürzlich veröffentlicht.

Seit 450 Millionen Jahren ziehen Haie durch Meere und Ozeane. Für Überfischung sind die Knorpelfische besonders empfindlich, weil sie eine niedrige Fortpflanzungsrate haben. Eine späte Geschlechtsreife, lange Tragzeiten und eine geringe Nachkommenzahl seien eine „Vermehrungsbremse“. Deshalb sei es umso gravierender, dass der Hai als eines der letzten Großraubtiere noch legal in großem Stil gejagt werden dürfe, sagt WWF-Experte Gramling.

Für die Ozeane ist der Haischwund ein Desaster: Haie sind die Meerespolizei und stehen am oberen Ende der Nahrungskette. Kleinere Raubfische, die zuvor von Haien gefressen wurden, können sich dann schnell vermehren. Die wiederum fressen Bestände von Muscheln, Korallen oder Seegras, das große Mengen an Kohlendioxid speichert. „Wenn die Haifischjagd so weitergeht, werden unsere Riffe in zehn Jahren kollabieren“, sagt Haiforscher Ghislain.