In seiner eindringlichen Doku „Life, Animated“ erzählt Regisseur Roger Ross Williams von dem autistischen Jungen Owen, der dank Disney-Filmen sprechen lernt

Immer wieder ist die Entwicklungsstörung Autismus Thema von Kinowerken. Bald 30 Jahre ist es etwa her, dass Dustin Hoffman in „Rain Man“, dem wohl bekanntesten Spielfilm zu dem Thema, in einer beeindruckenden Performance und an der Seite von Tom Cruise den Autisten Raymond verkörperte.

Nun läuft eine Dokumentation in den Kinos an, die von einem besonderen Fall erzählt: von einem kleinen amerikanischen Jungen namens Owen, der eines Tages ohne ersichtlichen Grund mit dem Sprechen aufhört. Über die von Owen so sehr geliebten Disney-Filme aber gelingt es dem autistischen Kind schließlich, wieder mit seinen Eltern zu kommunizieren. Bei den diesjährigen Oscars war „Life, Animated­“ von Roger Ross Williams in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm“ nominiert.

Als Owens Schweigen andauert, verzweifeln seine Eltern immer mehr

Die Vorlage zu diesem Dokumentarfilm kommt von Owens Vater Ron Suskind, der die außergewöhnliche Geschichte seines Sohnes in einem Buch verarbeitet hat. Als Owens unerklärliches Schweigen andauert, verzweifeln seine Eltern immer mehr. Schließlich diagnostizieren Ärzte eine Entwicklungsstörung: Autismus. Jahre vergehen, in denen Owen sich nicht nur immer mehr abkapselt, sondern er zudem von anderen Kindern gehänselt wird.

Vater Ron Suskind aber, zu dieser Zeit Journalist beim renommierten „Wall Street Journal“, macht sich mit seiner Frau Cornelia gemeinsam daran, Owen aus dem „Autismus-Gefängnis“ zu holen. Ihr größter Verbündeter: die Disney-Filme, die sich Owen so gern auf VHS-Kassetten anschaut. Sie sind das Einzige, was Owen beruhigt. Das Einzige, was ihn glücklich stimmt.

Eines Tages streift Vater Ron eine Handpuppe über – Jago, den vorlauten Papageien aus dem Disney-Werk „Aladdin“. Er fragt seinen Sohn: „Wie ist das, wenn man so ist wie du?“ Owen reagiert, er spricht. Die ersten Worte seit Jahren. Es ist so eindeutig wie verblüffend: Nur mithilfe der Disney-Charaktere, ob Simba, Jafar oder Arielle, gelingt es Owen, sich einen Reim aufs Leben zu machen. Allmählich findet er zurück in die Welt, beginnt wieder, mit dieser zu kommunizieren.

Es geht auch um die Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit

Wie grausam, fragt man sich beim Betrachten dieser Dokumentation, wie unerträglich muss es für Eltern sein, wenn ein quirliger, ein wacher Dreijähriger wie Owen seine mühsam erworbenen sprachlichen Fähigkeiten jäh wieder einbüßt? „Life, Animated“ rekapituliert Owens Leidens- und Befreiungsgeschichte; der Film zeigt uns schließlich aber auch, wie Owen als 23-Jähriger von zu Hause auszieht, um mit seiner Freundin in einer betreuten Wohneinrichtung zu leben.

Eigentlich, das wird im Verlauf dieser, für betroffene Familien sicher ermutigenden Doku immer deutlicher, geht es hier noch mehr als um Autismus um die Zumutungen der sogenannten Erwachsenenwelt. Um die Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit. Um die große Kraft der Elternliebe. Um Zusammenhalt. Zum Ende des berückenden Films, der auch von der Wirkmächtigkeit und der Magie der Kunstform Kino kündet, spricht Owen, fast beiläufig, einen Satz, der einem Tränen in die Augen treiben kann: „Meine Kindheit ist vorbei, aber das ist nicht schlimm.“

„Life, Animated“ USA 2016, 92 Min., o. A.,
R: Roger Ross Williams, täglich im Abaton (OmU), Holi, Studio (OmU); www.lifeanimated-derfilm.de